In aller Abgeschiedenheit werden nach wie vor die täglichen Gebete gesprochen: In Anne Fontaines "Agnus Dei – Die Unschuldigen" richten die Nonnen den Blick auf das, was kommt.

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Interessiert sich für Figuren, die aus dem Schatten treten: Anne Fontaine.

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Wien – Als die französische Ärztin Mathilde (Lou de Laâge) im Auftrag des Roten Kreuzes 1945 nach Polen geschickt wird, macht sie in einem Kloster am Rande eines Dorfes eine furchtbare Entdeckung: Fast alle Nonnen wurden von nach Deutschland vorrückenden russischen Soldaten vergewaltigt. Als eine der jüngeren Schwestern sie um Hilfe bittet, stellt sich heraus, dass viele Nonnen schwanger geworden sind – und Mathilde wird zur Geburtshelferin. Was danach mit den Kindern geschehen soll, sorgt nun in der Gemeinschaft für enorme seelische Belastung und Konflikte.

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STANDARD: Ihr Film beruht auf einem wahren Ereignis, das die Ärztin Madeleine Pauliac in einem Tagebuch festgehalten hat. Haben Sie die Geschichte Ihrem Autor Pascal Bonitzer vorgeschlagen, oder ist er an Sie herangetreten?

Fontaine: Mir wurde die Geschichte von französischen Produzenten erzählt, die das Tagebuch von Madeleine Pauliac gelesen hatten. Sie hatten ihren Neffen kennengelernt, der dieses besitzt. Ich war einigermaßen überrascht, dass sie für diesen Film an mich dachten. Sie hatten bereits ein Treatment von zwei Autorinnen in der Tasche. Ich habe daraufhin das Tagebuch gelesen, habe recherchiert und bin nach Polen gereist. Was den Nonnen hier passiert ist, hat sich ähnlich an weiteren verschiedenen Orten zugetragen. Bonitzer hat dann das Treatment zu einem Drehbuch entwickelt. Bis auf fünf Sätze, die er dazugeschrieben hat, basiert alles auf Pauliacs Aufzeichnungen.

STANDARD: Stimmt es, dass Sie zur Vorbereitung auf den Film einige Zeit im Kloster verbracht haben?

Fontaine: Ich habe zwei Mal jeweils eine knappe Woche in einem Benediktinerkloster verbracht, um ein Gefühl für einen solchen Ort zu bekommen. Um den Tagesablauf und die Gebetstradition kennenzulernen und mit den Frauen ins Gespräch zu kommen, nicht nur über den Film, sondern über ganz allgemeine Dinge. Es war spannend, hinter jeder einzelnen Frau eine Biografie, eine Lebensgeschichte zu erfahren. Geschichten voller Enttäuschungen, Liebe, aber auch voller Schmerz. Das hat mir geholfen, um im Film die Unterschiede zwischen diesen Frauen herauszuarbeiten. Aber natürlich habe ich mich auch mit technischen Fragen beschäftigt, etwa wie man Nonnen hinter diesen Mauern filmen kann.

STANDARD: Wie filmt man Nonnen?

Fontaine: Mich haben vor allem ihre Gesichter fasziniert. Ich habe eine unglaubliche Fragilität in ihnen entdeckt. Und hinter dieser Zerbrechlichkeit eine große Stärke. Es war mir wichtig, das in den Gesichtern der Schauspielerinnen zum Ausdruck zu bringen.

STANDARD: Das führt zur Arbeit der Kamerafrau Caroline Champetier, eine Meisterin ihres Faches, die mit Regisseuren wie Xavier Beauvois, Arnaud Desplechin und Léos Carax gedreht hat. In "Agnus Dei" fällt ihr dominantes Wechselspiel von Licht und Schatten auf, ein erstaunlicher Chiaroscuro-Effekt.

Fontaine: Sie hat als Künstlerin eine besondere Gabe, eine Geschichte mittels Bildern zu interpretieren. Sie arbeitet wie eine Anthropologin. Wir haben gemeinsam versucht, Referenzen zu finden: Gemälde, ikonografische Darstellungen, Filme. Es ist so, als ob den Nonnen die Körper fehlen würden, deshalb konzentrieren sich Licht und Kamera ganz auf die Gesichter – um das zu zeigen, was im Verborgenen zu finden ist.

STANDARD: Glauben Sie an Gott?

Fontaine: Nein. Ich bin katholisch erzogen und glaube an viele Dinge, zum Beispiel an das Leben. Aber nicht an Gott.

STANDARD: Sie haben sehr unterschiedliche Filme gedreht, darunter auch Komödien. Vielen Ihrer Arbeiten allerdings ist gemeinsam, dass sie starke Frauenfiguren in den Mittelpunkt rücken.

Fontaine: Das stimmt, aber wichtiger ist mir, dass es jemand ist, der aus seinem eigenen Schatten tritt. Es sind Figuren, die ein Risiko eingehen und aus der Konformität ausbrechen, wie zum Beispiel Coco Chanel das als Autodidaktin getan und sich damit selbst neu erfunden hat. Bei den Frauenfiguren sind das oft jene, die einen anderen Blick auf Sexualität haben, so wie Chanel oder Doris Lessing. Aber das ist keine Frage des Genres oder der Form, sondern solche Charaktere finden sich genauso in der Komödie.

STANDARD: Sie haben mit Isabelle Huppert, die eben in "Elle" eine starke Frauenfigur verkörpert hat, eine solche Komödie gedreht – "Mein liebster Alptraum". Die Figur der starken Frau hat ja eine filmhistorische Tradition, bis zur Screwball-Comedy. Ist die Komödie nicht die schwierigere Form?

Fontaine: Definitiv. Es ist viel schwieriger, jemanden zum Lachen zu bringen. Weinen ist einfach. Aber Huppert ist auch eine großartige Komödiantin, die auch das komische Register perfekt beherrscht. Ich habe übrigens gerade einen Film mit ihr gedreht, in dem sie eine Frau spielt, die Isabelle Huppert heißt.

STANDARD: Sie haben unlängst gemeint, "Agnus Dei" sei kein Historienfilm. Warum?

Fontaine: Weil er viel von der Gegenwart erzählt. Und davon, wie Fundamentalismus heute Gewalt gegen Frauen hervorbringt. Das, was diesen Nonnen passiert ist, geschieht noch immer, jeden Tag. Ich hatte sogar daran gedacht, die Geschichte in der Gegenwart in einem afrikanischen Land spielen zu lassen. (Michael Pekler, 17.6.2017)