Vor Beginn der EU-Austrittsgespräche wurde am Wochenende in London erneut gegen Theresa May und die Tories protestiert.

Auf britischer Seite gibt es im Vorfeld der ersten Verhandlungsrunde über Großbritanniens EU-Austritt nur wenige Gewissheiten. Selbst die Frage, wer eigentlich die Verhandlungen führen soll, sorgte bis zuletzt für Verwirrung. Als Leiter der Londoner Delegation sollte eigentlich der zuständige Minister David Davis am Brüsseler Verhandlungstisch Platz nehmen. Die Brandkatastrophe von Kensington, hieß es, sollte Premierministerin Theresa May die Lust am Verlassen der Insel genommen haben. Es sähe zu sehr nach Flucht aus. Am Sonntag jedoch sagte die Chefin des britischen Unterhauses Andrea Leadsom der BBC, May wolle die Brexit-Gespräche mit der EU doch selbst federführend leiten.

In Brüssel beginnen am Montag die Verhandlungen zum Austritt Großbritanniens aus der EU. Zum ersten Mal soll über die Bedingungen der Trennung gesprochen werden, berichtet ORF-Korrespondentin Bettina Prendergast aus London.
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Der 68-jährige Davis leitet seit Mays Amtsantritt im Gefolge der Volksabstimmung vom vergangenen Jahr das eigens gebildete Brexit-Ministerium. Vor der vorgezogenen Unterhauswahl gab es bei den Konservativen Spekulationen darüber, dass die Regierungschefin den früheren Europa-Staatssekretär und langjährigen EU-Feind durch den fast 20 Jahre jüngeren Benedict Gummer ersetzen wolle. Doch der Kabinettsminister verlor seinen Sitz im Parlament. Und so wenige Gewissheiten es noch gibt im Brexit-geschüttelten Land, dieses eherne Gesetz gilt: ohne Mandat kein Sitz im Kabinett. Davis durfte bleiben, so wie alle anderen wichtigen Minister auch.

Zu denen zählt Finanzressortchef Philip Hammond, dessen Ablösung in Mays innerem Zirkel offenbar beschlossene Sache war. Zu deutlich hatte der Schatzkanzler in den vergangenen Monaten die Sache der Wirtschaft und der City of London vertreten und gegen den "harten" Brexit argumentiert. Damit ist der Austritt aus Binnenmarkt und Zollunion gemeint, wie May ihn seit Monaten propagiert und auch in ihr Wahlprogramm schrieb.

Hingegen erhielten die strammen EU-Feinde, angeführt von Außenminister Boris Johnson, Verstärkung durch Michael Gove im Umweltressort und durch den neuen Brexit-Staatssekretär Steven Baker. Letzterer genießt in der Fraktion einen legendären Ruf als geschickter Einpeitscher der Ultras. Deren Parolen wie beispielsweise "Kein Deal ist besser als ein schlechter Deal" hat May im Wahlkampf stereotyp wiederholt und damit auf dem Kontinent Erstaunen hervorgerufen.

Selbstbeschädigung

Zwar gilt auch dort ein chaotisches Ausscheiden der Insel aus dem Brüsseler Klub ohne verbindliche Absprache als schwer zu verkraften. Katastrophale Folgen hätte es aber vor allem für die Briten selbst. "Wir schießen uns in den Kopf, dann werdet ihr schon sehen, was ihr davon habt", bringt ein britischer Beobachter die Drohung satirisch auf den Punkt.

Bisher hatten die Briten stets darauf beharrt, neben akut anstehenden Problemen – der zukünftigen Stellung von EU-Bürgern auf der Insel, der Grenze zwischen Nordirland und der Republik im Süden, Großbritanniens Finanzverpflichtungen – von Anfang an über einen zukünftigen Freihandelsvertrag sprechen. Der ist nun bis spätestens Herbst auf die lange Bank geschoben, wenn Davis sein Einknicken auch mit dem Slogan bemäntelt, am Ende werde es ohnehin eine Paketlösung geben: "Nichts ist entschieden, bis alles entschieden ist."

Vom Tisch ist auch Londons Wunsch nach Geheimhaltung: Am besten sollte alles hinter verschlossener Tür ablaufen. Mit deutlich größerem Realitätssinn wies Brüssel darauf hin, dass bei 27 Mitgliedstaaten die Durchstecherei von Papieren an die Medien kaum vermeidbar sei. Nun soll in Vier-Wochen-Zyklen verhandelt werden, an deren Ende steht jeweils die gemeinsame Präsentation der erzielten Ergebnisse.

Bisherige Pläne in der Downing Street sahen vor, dass London bald eine "großzügige Regelung" für die Rechte der mindestens drei Millionen EU-Bürger im Land anbieten würde. In Brüssel wird man sehr genau aufs Kleingedruckte achten. Unter anderem geht es um die Terminfrage: Ist der 29. März 2017 oder 2019 Beginn der Fünf-Jahres-Frist, die EU-Bürger auf der Insel verbracht haben müssen, um Anspruch auf dauerhaften Aufenthalt zu haben?

Ringen um Milliarden

Ein Streitpunkt bleibt sicherlich die Frage zukünftiger Zahlungen. In Brüssel kursieren teils abenteuerliche Rechnungen von bis zu 100 Milliarden Euro, Experten wie Iain Begg von der London School of Economics (LSE) halten Summen von rund 30 Milliarden Euro für realistisch. London spricht davon, "rechtliche Verpflichtungen" einzuhalten, also für bisher beschlossene Projekte auch über das Ende der Mitgliedschaft hinaus zu bezahlen. Es geht aber auch um die Pensionsansprüche tausender britischer Staatsbürger, die für die EU tätig waren.

Wie die zuletzt völlig durchlässige Landgrenze in Irland zukünftig gehandhabt wird, bleibt eines der Rätsel der britischen Verhandlungslinie. Einerseits reden alle Seiten von einer "reibungslosen" Lösung. Der diesbezügliche Druck auf May ist stärker geworden, seit sie nach ihrer verpfuschten Wahl auf die zehn Parlamentarier der nordirischen Unionistenpartei DUP angewiesen ist. Wie sich dies mit dem harten Austritt aus Binnenmarkt und Zollunion verträgt, bleibt Mays Geheimnis.

Die frühere Innenministerin interpretiert das Referendumsergebnis als Aufforderung zur Einschränkung der Einwanderung und räumt diesem Ziel höhere Priorität ein als reibungslosen Wirtschaftsbeziehungen. Ihrer Logik nach müssen die Briten den größten Binnenmarkt verlassen, weil die EU beim kniffligen Thema Personenfreizügigkeit bisher keinerlei Bewegung zeigt. Ob sich daran etwas ändert? Optimisten in London hoffen darauf: Die sechstgrößte Volkswirtschaft der Welt werde einen besseren Deal bekommen als Norwegen oder die Schweiz. (Sebastian Borger aus London, 19.6.2017)