Großbritannien ist ein gebeuteltes Land. Der vierte Terroranschlag in drei Monaten, drei davon allein in den letzten vier Wochen, ist nur eine Facette der Malaise – und nicht einmal die allerschlimmste. Wenn es um Terror geht, haben die Briten eine dicke Haut. Und sie haben reichlich Erfahrung aus den letzten Jahrzehnten, denn allein der Terror der nordirischen Untergrundorganisation IRA war nicht weniger blutig, dafür aber sehr viel permanenter als die jüngste Welle von blutigen Attentaten. Noch hält also die stoische Mentalität der Briten angesichts der jüngsten Gewaltwelle: Man will sich nicht unterkriegen lassen.

Die Katastrophe des Hochhausbrandes in Nord-Kensington dagegen hat die Nation viel tiefer erschüttert. Nicht allein wegen der Dimension des Unglücks oder weil es selbstverschuldet scheint. Hinzu kommt nämlich ein sozialer Aspekt: Das Inferno im Grenfell Tower traf arme Leute, Menschen, die von der reichen Kommune von Kensington und Chelsea jahrzehntelang ignoriert worden waren. Die soziale Spaltung des Landes, die Konsequenzen von sieben Jahren Austeritätspolitik unter der Regierung der Konservativen und der scheinbare Vorrang der Interessen begüterter Eliten wurden bei diesem Unglück sinnfällig.

In dieser Hinsicht schockt aber auch der jüngste Terroranschlag, weil er sich offensichtlich direkt gegen den muslimischen Bevölkerungsteil richtet. Denn sein Ziel ist die gesellschaftliche Spaltung. Zwischen die Religionen soll ein Keil getrieben werden. Wir müssen zusammenstehen, ruft der muslimische Bürgermeister von London, Sadiq Khan. Es ist ein Appell, den Großbritannien in diesen Zeiten braucht.

"Es ist schwierig", ließ die Queen anlässlich ihres offiziellen Geburtstags verlauten, "sich der düsteren nationalen Stimmung zu entziehen." Vordergründig mag Elizabeth II damit die Terrorattacken der vergangenen Monate gemeint haben, und natürlich hat sie damit wohl auch auf das Inferno vom Grenfell Tower angespielt. Die Queen, die laut der ungeschriebenen Verfassung politisch strikt neutral bleiben muss, wird aber auch die desolate politische Lage im Blick gehabt haben sowie die beispiellose politische Herausforderung, die die eben erst begonnenen Brexit-Verhandlungen für das Land darstellen.

Großbritannien, befand der Guardian, gehe in die Brexit-Gespräche "ohne Regierung und ohne Plan, wie man die größte geopolitische Kursänderung in die Tat umsetzt". Diese Formulierung ist nur ein wenig überspitzt. Natürlich hat das Königreich zurzeit eine Regierung – aber es handelt sich lediglich um ein Minderheitskabinett. Es steht auf tönernen Füßen, verhandelt immer noch über die Unterstützung durch die nordirische DUP, wird durch innerparteiliche Querelen bei den Konservativen genauso bedroht wie durch eine wiedererstarkte Opposition und hat beste Aussichten, demnächst erneut Neuwahlen überstehen zu müssen.

Und was den Brexit-Plan angeht: Auch der ist zwar vorhanden, aber angesichts der zahlreichen innenpolitischen Unwägbarkeiten nicht mehr als eine Absichtserklärung. Eine entscheidend geschwächte Premierministerin Theresa May wird morgen, Mittwoch, wenn die Queen das Parlament mit der Verlesung der Thronrede eröffnet, so tun, als ob sich nichts geändert hätte. Aber das stimmt nur an der Oberfläche. (Jochen Wittmann, 19.6.2017)