Vom Aussichtspunkt Mirador de Abrante blickt man auf das Dorf Agulo im Nordosten der Kanareninsel La Gomera.

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Mit seinen 1.487 Metern Höhe versteckt sich der höchste Berg, der Alto de Garajonay, meist in kalten Wolken, deren Kondenswasser für rund 90 Prozent der Süßwasserressourcen sorgen. Hier der Blick vom Berg Richtung Teneriffa. Der Teide ist gut zu sehen.

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Playa de Santiago auf La Gomera

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Der Roque Argando auf La Gomera bei Sonnenaufgang.

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Ein immergrüner Wald im Garajonay National Park auf La Gomera

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Ulises Martin Mendoza balanciert auf einer wackligen Leiter und reckt sich tapfer in die Höhe. Auf zwei reife, gelbe Papayas hat es der Mittfünfziger abgesehen. Gut ein Kilo schwer ist das Stück und definitiv essfertig. Eine warme, salzige Meeresbrise weht dem Ökobauern um sein sonnengegerbtes, zerfurchtes Gesicht, das so manchen seiner Besucher an die Topografie der Vulkaninsel La Gomera selbst erinnert.

Eigentlich schlägt sich Ulises sonst mit Jobs für die Gemeinde durch. Vernünftig bezahlte Arbeit ist rar auf der zweitkleinsten Kanareninsel, an der der Strom des Massentourismus bislang vorbeigezogen ist. Irgendwie fehlte dem sympathischen Mann mit dem schelmischen Blick jedoch lange Jahre etwas. Die ökologische Landwirtschaft reizte ihn, und seiner langjährigen deutschen Partnerin Marina Seiwert gefiel die Idee.

Fruchtbare Erde

Zusammen erstanden sie ein preiswertes Stück Land direkt am Meer in der malerisch gelegenen Tausendseelengemeinde Agulo. Allein schon der Blick von dort ist Gold wert – unverbaubar direkt auf den majestätischen Vulkan Teide der Nachbarinsel Teneriffa. Und erst die fruchtbare Erde. Ein Garten Eden mit Bananen, Zitronen, Feigen, Mangos, Guajaven und Physalis.

"Eigentlich könnte man dieses Kleinod interessierten Urlaubern zeigen", resümierte Marina einst. Sie ist Guide auf La Gomera und ständig auf der Suche nach ungewöhnlichen Programmen, nach Begegnungen auf Augenhöhe von Einwohnern und Gästen. "Warum nicht Kinder und Erwachsene kosten lassen, wie sonnengereiftes Obst schmecken kann? Und den Jüngsten zeigen, wie die Früchte eigentlich aussehen, die im Supermarkt zu gerade einmal zwei Prozent im Joghurtbecher stecken?" Gesagt, getan. Viele Besucher probieren exotische Früchte, von deren Existenz sie zuvor nie gehört hatten. Die süßlich-säuerliche Pitanga zum Beispiel, auch Surinamkirsche genannt.

Grau, mausgrau

Reisende, die sich für La Gomera entscheiden, kommen nicht wegen eines quirligen Nachtlebens oder wegen der Bilderbuchstrände. Ersteres gibt es nicht, und Strände sind so rar wie schmal, oftmals gepeitscht von einer rauen Atlantikbrandung. Schön schwarz, wie es die Tourismusprospekte versprechen, sind sie auch nicht, sondern einfach nur grau, mausgrau. Der klassische Gomera-Urlauber bevorzugt Aktivurlaub im Einklang mit Land und Leuten. Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel ist eine von ihnen. Sie urlaubt regelmäßig auf der Insel.

Was die kleine Insel mit 22 mal 25 Kilometern Ausdehnung an natürlichen Reichtümern zu bieten hat, ist außergewöhnlich. Aus den Tiefen des Meeres wurde die vulkanische Insel geboren. Längst sind die lodernden Feuerschlote erloschen, und die Erosion verrichtet ihr stetes Werk. Gebirgsflüsse haben Schluchten, die Barrancos, tief in den Stein geschnitten. Ein zentrales Bergmassiv teilt die Insel in einen fruchtbar-feuchten Norden und einen trocken-sonnigen Süden.

Wolken überm Zauberwald

Mit seinen 1.487 Metern Höhe versteckt sich der höchste Berg, der Alto de Garajonay, meist in kalten Wolken, deren Kondenswasser für rund 90 Prozent der Süßwasserressourcen sorgen. Der Parque Nacional de Garajonay, der 1981 auf Initiative des deutschen Botanikers Günther Kunkel gegründet und 1986 zum Unesco-Welterbe erklärt wurde, ist das Juwel der urigen Kanareninsel.

Wie aus einem Märchen entsprungen wirkt der immergrüne Lorbeerwald, der Laurisilva, der rund zehn Prozent von La Gomera mit einem dichten Kleid bedeckt. Über und über sind die weltweit selten gewordenen Bäume mit Moos bewachsen. Es ist dunkel im Wald, und das Klima ist ein völlig anderes als an der Küste. Oft hängen mystische Wolkenfetzen im Zauberwald.

Tabuzonen für Besucher

Seit der europäischen Eroberung La Gomeras ab 1430 hat sich der Lorbeerwald halbiert. Die Guanchen, die Ureinwohner, dezimierten ihn vermutlich kaum, die Spanier sehr wohl. Aus dem Holz bauten sie Werkzeuge, Möbel, ja ganze Häuser, die wiederum mit Holz und – von den wohlhabenden Familien – mit Holzkohle befeuert wurden. Noch heute kann man die einstigen Produktionsstätten der Köhler auf gerodeten Lichtungen ausmachen. Brände taten ihr Übriges. Seit drei Jahrzehnten steht nun der größte Lorbeerwald der Kanaren unter Schutz. Die Wanderwege wurden behutsam ausgebaut, einige Zonen sind für Besucher tabu.

Bis zur Eroberung der Kanarischen Inseln im 15. Jahrhundert nutzten die Ureinwohner eine ganz spezielle Art der Kommunikation, um sich über die tiefen Schluchten hinweg zu verständigen: El Silbo, die Pfeifsprache. Ganze Wörter können mit diesem linguistischen Unikum gepfiffen werden. Im vergangenen Jahrhundert fast vergessen, ist es heute wieder Pflichtfach in den Volksschulen. Seit 2009 zählt die Unesco El Silbo zum immateriellen Weltkulturerbe der Menschheit.

Wein, um die Zunge zu lockern

Auf Wanderungen in den wolkenverhangenen Bergen baut Guide Marina gerne eine Rast bei Winzer Placido Chinea Mendoza ein. Wenn der alte Mann nicht gerade mit seinem Landwein beschäftigt ist oder Schnaps brennt, sitzt er vor seiner Hütte, spielt Chacaras, die Kastagnetten, und unterhält sich mit einem anderen Weinbauern vom gegenüberliegenden Berghang. Pfeifend versteht sich. Den Wanderern gibt er bei einem Gläschen, das die Zunge lockert, gerne eine Lektion El Silbo. Gar nicht so einfach, ein ganzes Wort zu pfeifen.

Auf La Gomera ist nach wie vor die Subsistenzwirtschaft verbreitet. Man produziert für den Eigenbedarf und tauscht etwaige Überschüsse mit den Nachbarn. So kann es zum Beispiel sein, dass Ökobauer Ulises erntefrisches Obst gegen Wein bei Placido tauscht, und dieser Hochprozentigen gegen Palmsirup, den Miel de Palma von Manolo, den er dann mit seinem Schnaps zum inseltypischen Gomerón-Likör mixt. All den kleinen Produzenten ist gemeinsam, dass sie nach alten Traditionen, also umweltverträglich, wirtschaften und sich gerne bei ihrer Arbeit über die Schulter schauen lassen. Mehr noch: Urlauber, die Obst pflücken, El Silbo pfeifen, Palmsirup zapfen oder Ziegen melken, sind immer gerne gesehen. (Marc Vorsatz, Madalina Dragoi, RONDO, 26.6.2017)