Innsbruck – Mehr als 30 Jahre lang führte die Ärztin Maria Nowak-Vogl ein grausames Regime. Rund 3600 Kinder und Jugendliche waren in dieser Zeit auf ihrer psychiatrischen Beobachtungsstation in Innsbruck untergebracht. Viele von ihnen wurden Opfer von Misshandlungen, sexuellen Erniedrigungen und Medikamentenversuchen.

Obwohl bereits 1980 ein ORF-Beitrag diese Missstände aufgedeckt hatte und die Staatsanwaltschaft ermittelte, konnte Nowak-Vogl bis 1987 ihr Werk fortführen. Die Einstellung der Ermittlungen erfolgte auf Basis eines Gutachtens des umstrittenen Neuropädiaters Andreas Rett, von dem man heute weiß, dass er ebenfalls nicht zugelassene Medikamente an Kindern getestet hat. Nachdem 2013 eine Expertenkommission die Vorwürfe gegen Nowak-Vogl bestätigt hatte, wurden am Donnerstag zwei Studien zur wissenschaftlichen Aufarbeitung der Vorgänge in der Kinderbeobachtungsstation von 1954 bis 1987 vorgestellt.

Mischung aus "Gefängnis, Kinderheim und Versuchsklinik"

Elisabeth Dietrich-Daum und Michaela Ralser von der Universität Innsbruck, die ein Forschungsteam leiteten, hoben in ihrer Untersuchung die Verwurzelung Nowak-Vogls und ihrer Methoden im Nationalsozialismus hervor. In nur sechs Prozent der Fälle habe die Ärztin eine psychiatrische Diagnose gestellt. Zumeist argumentierte sie erbbiologistisch oder milieutheoretisch. In zehn Prozent der insgesamt 1436 untersuchten Krankenakten attestierte sie den Mädchen Triebhaftigkeit. Jenischen Kindern wurde nicht selten ein Wandertrieb angedichtet. Die Zustände auf der Station wurden düster als Mischung aus "Gefängnis, Kinderheim und Versuchsklinik" beschrieben.

Auch die enge Zusammenarbeit zwischen Jugendwohlfahrt und Nowak-Vogl hoben die Forscherinnen hervor. Obwohl es bereits in den 1970er-Jahren andere Zugänge zur Kinderpsychiatrie gegeben hatte, weigerte sich Nowak-Vogl beharrlich, umzudenken. Die Behörden deckten diese Haltung. Im Gegenzug arbeitete Nowak-Vogl dem Amt zu. Ralser und Dietrich-Daum stellten fest, dass den Kindern trotz besseren Wissens eine förderliche Behandlung bewusst verwehrt geblieben ist.

Zweite Studie wertet Taten nicht pauschal als Unrecht

Viel weniger kritisch fällt die zweite Studie von Sylvelyn Hähner-Rombach von der Robert-Bosch-Stiftung in Stuttgart aus. Sie untersuchte das Wirken Nowak-Vogls "in den historischen Kontext eingebettet". Dabei kommt Hähner-Rombach zum Schluss, dass die therapeutische Vorgangsweise zeitgenössisch gewesen sei, wenn auch nicht regelhaft – weil es damals insgesamt an Regeln fehlte. Die Taten Nowak-Vogls seien daher retrospektiv auch nicht pauschal als Unrecht zu bezeichnen – obwohl sie selbst in ihrem Bericht festhielt, dass für die meisten Kinder und Jugendlichen der Aufenthalt in Nowak-Vogls Station "in hohem Maße unerfreulich", für viele sogar "schrecklich und traumatisierend" war. Ralser und Dietrich-Daum beharrten hingegen auf dem Standpunkt, dass aus heutiger Sicht illegitime Gewalt zum Einsatz gekommen sei.

Bei der Opferschutzkommission des Landes haben sich bisher 177 ehemalige Patienten Nowak-Vogls gemeldet. 166 von ihnen wurden mit insgesamt 679.000 Euro entschädigt – das entspricht durchschnittlich etwa 4.000 Euro. Es können sich auch weiterhin Betroffene an die Kommission wenden, betonte die zuständige grüne Soziallandesrätin Christine Baur. (Steffen Arora, 23.6.2017)