Kritischer Blick auf Machtverhältnisse, insbesondere die österreichischen, und ein Faible für Helden, die gegen den Ist-Zustand der Welt anrennen: Gerhard Roth.


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Gerhard Roth, "Landläufiger Tod". Erste vollständige Ausgabe. Mit Zeichnungen von Günter Brus. € 37,10 / 974 Seiten. S. Fischer, Frankfurt/Main 2017

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Es gibt weniger fleißige und fleißigere Autoren. Gerhard Roth gehört ohne Zweifel zu den sehr fleißigen. Eifrig, emsig, ja, bienenhaft könnte man seinen Arbeitseinsatz nennen. Von 1980 bis 2011 hat er seine Romane, Essays, Berichte, autobiografischen Texte und Bildbände in zwei Zyklen zusammengefasst. Die Archive des Schweigens und Orkus.

Neben diesen fünfzehn Publikationen der beiden Zyklen gibt es noch eine Menge anderer Prosaarbeiten, Fotobücher und Filmarbeiten. Was all die Prosa wahrscheinlich zusammenhält, ist erst einmal Roths kritischer Blick auf reale Machtverhältnisse, insbesondere was die Geschichte Österreichs betrifft. Zudem sind seine Romanhelden zumeist Gescheiterte, die gegen den Ist-Zustand der Welt vergeblich antreten. Es sei "ein Trost, dass jemand wahnsinnig wird, angesichts dieser Welt", hat Roth einmal gesagt. Ähnlich dem Kriminalroman legt der Autor ein Netz von Andeutungen, Bedeutungen, Spuren und Beziehungen aus, wobei auch das Unwahrscheinliche, das Surreale, seinen festen Platz hat.

Wenn Gerhard Roth ein Experimentierender in Sachen Sprache ist – seine frühen Romane aus den 1970er-Jahren stehen in einem Nahverhältnis zur Wiener Gruppe –, dann bedeutet dies, dass er Kunstsprache als eine Art Organismus ansieht, in dem alles mit allem in Beziehung steht. Am klarsten findet sich diese Idee im Roman Landläufiger Tod realisiert, der zum siebenbändigen Zyklus Die Archive des Schweigens gehört und 1984 erstmals publiziert wurde.

Verlorene Sprache

Zum 75. Geburtstag Roths am 24. Juni hat sein Hausverlag S. Fischer dieses monumentale Prosawerk neu herausgebracht – und zwar als "Erweiterte Neufassung. Erste vollständige Ausgabe". In dieser findet man nun auch die Dorfchronik zum "Landläufigen Tod", einige andere kleinere Texte plus einen schönen Essay Roths zum Thema Bienen, Bienensprache und Bienenstaat.

Und vielleicht sollte man das Buch mit diesem Text beginnen. Denn Roth hat sich so sehr mit den Bienen beschäftigt, dass der österreichische Verband der Bienenzüchter ihn zum Ehrenimker ernannt hat. Die Kommunikation der Bienen nennt der Autor ein "Sprachballett", und im "Bien" – also im Organismus, der sich aus allen Bienen eines Stocks zusammensetzt – begriff er, "dass mein Buch ein Organismus aus frei fliegenden Zeilen wie der Bien sein würde". Der Bien ist wandelbar, ist etwas Festes, das zugleich seine Gestalt verändern kann. Besser lässt sich Gerhard Roths Landläufiger Tod wohl nicht beschreiben. Das Buch ist ein Textorganismus, der aus ganz verschiedenen Teilen, ganz verschiedenen Textarten zusammengesetzt ist und doch ein Ganzes bildet.

Die Anfangsstruktur des Landläufigen Todes ist eigentlich ganz klassisch: Es gibt einen jugendlichen Protagonisten mit Namen Franz Lindner. Nach einem Unfall im Sägewerk hat Lindner die Sprache verloren, und wegen schizophrener Schübe wird er zeitweise in die Irrenanstalt weggesperrt. Will er etwas sagen, so schreibt er es auf ein Stück Papier.

Landläufiger Tod besteht aus sieben Büchern, und im ersten Buch führt der Autor tatsächlich eine Dorfgemeinschaft vor, innerhalb derer sich ein Wanderzirkus niedergelassen hat. Landwirte bevölkern die Szenerie, der Vater von Franz Lindner ist Imker. Diese Dorfwelt ist dumpf, begrenzt, für jeden Fremden ein feindliches Terrain. Man könnte daher Roths Roman als "Anti-Heimatroman" bezeichnen, zumindest teilweise.

Doch schon im zweiten Buch ändert sich die Perspektive. Es sind Aufzeichnungen von Franz Lindner, die an der herkömmlichen Ordnung der Dinge rühren. Er notiert Sätze wie "Die Honigbiene schleppt den auf ihrem Stachel harpunierten Zirkusdirektor in das Zelt". Oder: "Zur Abschreckung der Ameisen wird in den Vorgärten das Gebiss eines Hais angebracht."

Was Gerhard Roth hier – und an vielen weiteren Stellen seines Romans – macht, ist das Weiterentwickeln eines literarischen Stilmittels der Surrealisten: An einer Metapher entzündet sich dann ein sprachlicher Funke, wenn die beiden Bildbereiche möglichst weit auseinanderliegen. Etwa wenn wie bei Roth die Kühe "fliegen" oder wenn ein sterbender Esel "Opernmusik ertönen" lässt.

Hier geht das Unwahrschein liche, ja, das an sich Unmögliche, mit dem "Realen" eine Verbindung ein, die den Leser zwingt, sich dieses Gesamtbild vors geistige Auge zu führen und es selbst zu realisieren. Das Bewusstsein wird erweitert, überschreitet so das rein Vernünftige, Klare und Logische.

Bei Gerhard Roth bleibt aber der Bezug zum Landleben stets erhalten. Das heißt, Erzählelemente, die das österreichische Land mehr oder weniger realistisch darstellen, gehen von der Inhaltsseite her beinahe bruchlos in surreale Welten über. In der Dorfchronik wird sogar jeder Dorfbewohner mit einem surrealen Element verbunden: Dominik, der Leichenbestatter, lebt mit einer Ratte zusammen, die so groß ist wie ein Pferd. Und die Witwe Oswald hat Visionen: "Sah sie nicht erst vor kurzem einen Engel, aus dessen Kopf ein zweiter und aus dessen ein dritter und so weiter gewachsen war?"

Im dritten Buch von Roths Roman, Mikrokosmos betitelt, öffnet Franz Lindner, der stumme Sohn des Imkers, ein Buch: "Öffne ich das Bienenmagazin, beginnt die Katze zu träumen, mit dem Traum der Katze regt sich der Fötus im Bauch der jungen Frau, mit den Zuckungen des Fötus fängt es an zu regnen, durch den Regen fällt die Brille der Greisin zu Boden und zerbricht, durch das Zersplittern des Brillenglases löst sich das Blatt vom Kastanienbaum, durch das Herabschweben des Blattes stirbt ein Dorfbewohner (...)." Und so weiter.

In diesem magischen Bienentext steht alles mit allem in Beziehung. Er gleicht dem Bien, dem wandelbaren Organismus des Bienenvolkes. Ohne Zweifel folgt hier Gerhard Roth der "Analogistik" des philosophisch wie naturwissenschaftlich geschulten Romantikers Novalis: "Überhaupt ist es mit den Büchern und mit allem so wie mit den Menschen. Der Mensch ist eine Analogienquelle für das Weltall."

Die Romantiker verehrten das Märchenhafte, sammelten Volksmärchen, schufen Kunstmärchen. Das fünfte Buch von Gerhard Roths Roman hat den Titel Märchen. Auch hier werden Themen des Landlebens und der Natur mit Übernatürlichem verbunden.

Gedankenorganismus

Im Roth’schen Kunstmärchen Der Sprachschöpfer möchte ein junger Bauernbursche die Sprache der belebten und unbelebten Natur erlernen. Ein Buchfink hilft ihm weiter: "Und plötzlich blätterte der Buchfink sein Buch auf, indem er die Federn spreizte, und in diesem Buch sah der junge Bursche den Wald und die Moose und Käfer und Flechten und Pilze, und alles gehörte zusammen und war eines, und er las in diesem Buch, dass er schweigen müsse."

Nur, am Schluss des Märchens findet sich eine erstaunliche Anmerkung: "Dieses Märchen stammt von einem Pyromanen, der bis zu seinem achtzigsten Lebensjahr zweiunddreißig Bauernhöfe, Sägewerke, Kirchen, Bahnhöfe, Wohnhäuser und Kapellen einäscherte." Man vergesse nicht: Die Hauptfigur des Romans, Franz Lindner, muss von Zeit zu Zeit in die Irrenanstalt. Gerhard Roth hat sich intensiv mit der produktiven Kraft von Geisteskranken beschäftigt, etwa mit dem Dichter Ernst Herbeck, genannt "Alexander", oder dem Maler August Walla, die beide in der psychiatrischen Anstalt Gugging lebten und arbeiteten. Surreales und Wahnsinniges schmiegen sich oft eng aneinander – doch auch die Vernunft, das fest Reale steht in einem bestimmten Verhältnis zu beiden.

Dass der Roman Landläufiger Tod nun in seiner vollständigen Fassung vorliegt, ist ein Geschenk an uns Leser. Denn dieses monumentale Sprachkunstwerk ist ein literarischer Bien, ein Wort-, Satz-, Bild- und Gedankenorganismus, der Welt-Haben in seiner ganzen Breite und Dichte vorführt. Realistische Begebenheiten, surreale Traumwelten, produktiver Irrsinn, Krieg, Tod, aber auch das stete Werden der Natur werden einem als ein lebensumfassender Ablauf vor Augen geführt.

Und so wie das Leben mit seinen Stoffen, Dingen und geistigen Kräften experimentiert, experimentiert Gerhard Roth mit sprachlichen Formen und Sprachbildern – und schafft dabei einen literarischen Kosmos. Der Roman Landläufiger Tod ist nicht nur ein Meisterwerk in deutscher Sprache, sondern sollte zur Weltliteratur gerechnet werden. (Andreas Puff-Trojan, Album, 24.6.2017)