Mit einer ungewöhnlich regierungskritischen Äußerung hat sich das Oberhaupt der anglikanischen Staatskirche in die britische Diskussion über den EU-Austritt eingemischt. Premierministerin Theresa May müsse "das Gift aus der Debatte nehmen", glaubt der Erzbischof von Canterbury, Justin Welby, und redet einer parteiübergreifenden Brexit-Kommission das Wort. Diese solle Parlament und Regierung beraten, aber nicht binden, und auf diese Weise das Land zusammenführen. Großbritannien müsse seinen "Ort in der Welt neu bestimmen".
Der Wortbeitrag des höchsten Geistlichen der Kirche von England für die Mail on Sunday stellt eine Ohrfeige für die treue Anglikanerin May dar und offenbart die zunehmende Alarmiertheit des gesellschaftlichen Zentrums über die anhaltende Brexit-Spaltung im Land. Politische Meinungsäußerungen des obersten Anglikaners, dessen weltliches Oberhaupt die Königin selbst ist, sind sehr ungewöhnlich.
Die Regierungschefin, die am Montag Details zu ihren Brexit-Plänen und den Rechten von EU-Bürgern präsentieren will, redet seit Monaten davon, das Land vereine sich zunehmend hinter ihrem harten Brexit-Kurs samt Austritt aus Binnenmarkt und Zollunion. Das Ergebnis der mutwillig vorgezogenen Neuwahl vom 8. Juni spricht eine andere Sprache: Die Konservativen verloren ihre absolute Mandatsmehrheit, May ist zum Regieren auf das Wohlwollen nordirischer Unionisten angewiesen. Angesichts der angeschlagenen Premierministerin träumen viele Konservative von einem neuen Übergangspremier bis zu Neuwahlen im Frühjahr 2019, wenn die Brexit-Verhandlungen zu Ende gehen.
Spekulationen beenden
Dass nicht einmal die eigene Partei geschlossen hinter May steht, räumte deren Brexit-Minister David Davis am Sonntag indirekt ein, als er die Parteifreunde dazu aufforderte, die Spekulationen über mögliche Nachfolger Mays zu beenden – schließlich werde dadurch die Verhandlungsposition in den Austrittsgesprächen geschwächt.
Die Argumentation entbehrt nicht einer gewissen Komik, war es doch Davis, der zuletzt hinter vorgehaltener Hand stets seine eigenen Führungsqualitäten rühmte. Als Hauptrivale des EU-Feindes gilt Finanzminister Philip Hammond, den das Wirtschaftsmagazin "Economist" zuletzt als "ausgewiesenen Erwachsenen in einem politischen Kinderzimmer" hervorhob. Der "kindischste von allen" sei Brexit-Vorkämpfer und Außenminister Boris Johnson, ein weiterer Anwärter auf die Krone.
Laut Analyse der "Financial Times" hat die Wahl die Verhältnisse innerhalb der Regierungsfraktion nicht verändert: Noch immer überwiegen Befürworter einer möglichst engen Beziehung zur EU im Vergleich zu harten EU-Feinden.
"Mehr Patriotismus"
Aus deren Reihen kamen am Wochenende Äußerungen, die auf eigene Ratlosigkeit schließen lassen. So forderte die frühere May-Rivalin Andrea Leadsom, neue Führerin des Unterhauses, die öffentlich-rechtliche BBC zu "mehr Patriotismus" auf. Entwicklungshilfeministerin Priti Patel stellte sogar eine neue politische Doktrin auf: Die Rolle der Labour-Opposition sei es, "die Regierung in den Gesprächen zu unterstützen". Die von Welby geforderte Kommission lehnte Patel ab.
Ein wichtiges Hindernis für die Idee stellt das Zögern der Labour-Partei dar, sich in die überparteiliche Verantwortung nehmen zu lassen. Deren Vorsitzender Jeremy Corbyn sonnte sich am Wochenende im Glanz der Zustimmung von zehntausenden jungen Musikfans, die ihm auf dem Festival von Glastonbury zujubelten.
Corbyn und sein engstes Team sind EU-Skeptiker, während Brexit-Sprecher Keir Starmer die Insel im Binnenmarkt halten will. (Sebastian Borger aus London, 25.6.2017)