Für diesen Lifestyle gibt es keine Jumboplakate mit lachenden Modelleltern, wie sie ihre Kinder an ihren Händchen durch die Brandung eines freundlichen Strandes ziehen.

Foto: bogumil balkansky

Ich habe einen Kumpel, der für sein Recht eintritt, "Krüppel" sagen zu dürfen. Allerdings kennt er keinen einzigen. Und mir fällt es unendlich schwer, diese unendlich traurige Geschichte zu erzählen.

Trost von Fremden

Sein Vater füttert Richard langsam mit einem Brei, wo Schokolade drinnen ist. Das schmeckt Richard, man sieht es, wenn er beim Schlucken die Augen zumacht. Etwas später wickelt sein Vater Richard und macht dabei zwischendurch auf seinem Bauch Kreise mit dem Zeigefinger. Noch später legt sein Vater ihn ins Bett und singt für ihn. Wie alle Kinder schläft Richard ganz schnell ein, weil er geborgen ist und die Liebe seines Vaters spüren kann. So, wie alle Kinder es spüren, wenn man sie liebt.

Richard ist zehn Jahre alt. Er wird immer gefüttert werden müssen, und jemand wird ihm immer die Windeln wechseln müssen. Ob auch immer jemand da sein Wird, um für Richard zu singen und ihn Liebe spüren zu lassen, ist ungewiss. Sollte er länger leben als seine Eltern, wird er auf den wenig wahrscheinlichen Trost und die noch weniger wahrscheinliche Liebe Fremder angewiesen sein.

Vielleicht, so sagt mir Richards Vater, ist der einzige echte Trost die große Wahrscheinlichkeit, dass Richard seine Eltern nicht überleben wird.

Alle Liebe dieser Welt

Es ist ein seltener Gendefekt. Er kann vor der Geburt nicht festgestellt werden. Dafür unmittelbar nach der Geburt, als Richard blau angelaufen und mit zusammengefallener Lunge intubiert wird. Die Stunden, die seine Eltern wartend im Krankenhaus zubringen, beschreibt Richards Vater in einem Blog, den er führt, weil Richard nie in der Lage sein wird, auch nur zu sagen, was er fühlt. Wenn er Schmerzen hat, kann er nur weinen.

In der kleinen Wohnung hat Richards Vater in einer Ecke eine Werkbank und Werkzeuge. Damit bastelt er hilfreiches Zubehör rund um den Spezialstuhl, auf dem Richard lebt. Dieser Stuhl hält ihn aufrecht, sodass er atmen kann. Früher ist der Stuhl auch wichtig, wenn Richard epileptische Anfälle bekommt. Damit er nicht zu Boden fallen kann. Aber seit zwei Jahren geschieht kein Anfall mehr. Das ist gut.

Richards Mutter liebt ihn zweifellos auch. Doch ich kenne nur seinen Vater und sitze heute in seiner Wohnung. Die Ehe ist lange geschieden, Richards Gendeffekt ist nur die letzte, alles zerreißende Probe. Doch für Richard zählt nur das Streicheln, Füttern und Singen beim Einschlafen. Und seine Mutter macht das ebenso liebevoll wie sein Vater. Auch wenn seine Eltern es nicht geschafft haben, miteinander glücklich zu werden, tun sie alles, damit Richard glücklich ist.

Labyrinth ohne Notausgang

Vor wenigen Monaten gerät Richards Vater zu einer Figur von Kafka. Am Ende – wie immer bei solchen Geschichten – stellt sich heraus, dass der Fehler irgendwo tief im Inneren der Abteilung für Informationswiederbeschaffung des AMS geschieht. Nicht etwa, weil dort böse Faschisten arbeiten, die nur darauf warten, sozialdarwinistische Maßnahmen zu vollziehen, sondern weil eine einfache Gesundmeldung von Richards Vater verlorengeht und nicht im System landet.

Und weil das System merkt, dass Richards Vater zu lange krank ist, wird er automatisch "ausgesondert". Er merkt das aber erst, als nach langem Warten kein Geld kommt und dann ein Bescheid, der ihn vom Geld aussperrt. Also spricht Richards Vater beim AMS vor. Danach beginnt für ihn eine Odyssee zwischen meist wohlmeinenden, wenigen indifferenten und einigen schlecht informierten Mitarbeitern diverser Abteilungen in drei verschiedenen Magistraten.

Weil am Ende die Summe der Wohlmeinenden alles überwiegt, endet es gut. Richards Vater bekommt die Zusage, alles sei in Ordnung, was das AMS betrifft. Doch bei der Post geschieht ein kleiner Fehler, und die Auszahlung droht sich noch eine Woche in die Länge zu ziehen. Inzwischen muss er für Richards Medikamente Geld borgen. Also spricht Richards Vater bei der Post vor. Wo man Verständnis, aber nicht den notwendigen Zettel mit dem notwendigen Stempel hat. Und das Wochenende naht.

In einem letzten Kraftakt pendelt Richards Vater fünfmal zwischen AMS und Post und trägt alle Zettel und alle Stempel zusammen, die es braucht, damit seine Überweisung freigegeben wird. Am Abend ist dann alles gut. Richard wird gefüttert, gewickelt, und zum ersten Mal seit einigen Wochen kann Richards Vater das Schlaflied ohne Zittern in seiner Stimme singen. Und Richard ist glücklich.

Am Ende des langen Tages

Ehrlich gesagt weiß ich nicht, warum ich diese Geschichte schreibe. Vielleicht, weil Menschen wie Richard und sein Vater keine Lobby haben. Für diesen Lifestyle gibt es keine Jumboplakate mit lachenden Modelleltern, wie sie ihre Kinder an ihren Händchen durch die Brandung eines freundlichen Strandes ziehen.

Ja, es gibt Abgeordnete im Parlament, Arbeitskreise in Parteien, Vereine, Selbsthilfegruppen und das volle Programm des Unglücksmanagements. Sogar Gesetze gibt es. Und trotzdem habe ich das Gefühl, dass Richard und sein Vater immer in einem Schatten leben, wie in einem Zimmer mit Fenster zum Lichthof, wo man nie den Himmel sieht.

Allerdings gibt es eine Lobby, die verhindert, dass Menschen wie Richard geholfen wird. Das ist die Lobby all jener, die Stammzellenforschung verhindern wollen. Und diese Lobby ist sehr erfolgreich, sie hat so viel Geld, wie Richards Vater nicht einmal abends in einem Film sieht, und sie sitzt in jeder Partei, jeder Regierung und jeder Kommission irgendwie drinnen. Richards Gendefekt könnte vielleicht längst erkennbar und vielleicht sogar behandelbar sein, aber diese Menschen verhindern und verzögern das. Es sind übrigens dieselben, die Abtreibungen für alle Frauen verbieten wollen.

Und es sind dieselben Menschen, die ständig von Liebe reden: Liebe zum Ungeborenen, zum Nächsten, zum Feind. Bloß keine Liebe für Richard und seinen Gendefekt. Solchen ist Stammzellenforschung ein Eingriff in einen Plan, aber keiner von ihnen muss das Richard und seinem Vater persönlich sagen. Das sagen sie Richard und seinem Vater in Kolumnen, Talkshows, Predigten und Enzykliken. Sie sagen auch dazu, dass Richard und sein Vater halt geprüft werden und dass im nächsten Leben ein besserer Deal auf beide wartet. Falls sie dem richtigen und nicht dem falschen Glauben angehören.

Was für ein Pech, dass Richards Vater Atheist ist. Und Richard sowieso. (Bogumil Balkansky, 27.6.2017)