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Hannah Arendt wurde 1906 in Hannover geboren. 1933 emigrierte sie aus Deutschland – zunächst nach Frankreich, später in die USA. Bis zu ihrem Tod 1975 lebte sie mehrere Jahrzehnte in New York. Diese Aufnahme stammt von 1944.

Foto: Picturedesk / Fred Stein

Videoaufnahmen des Prozesses gegen Adolf Eichmann in Jerusalem.

EichmannTrialEN

Wien – Als der ehemalige SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann im April 1961 vor dem Bezirksgericht Jerusalem vorgeführt wurde, hatten sich nicht nur die am Prozess Beteiligten, sondern auch die zahlreich angereisten Journalisten eine monströse Erscheinung erwartet. Eichmann wurde schließlich eine zentrale Rolle bei der Ermordung von Millionen Juden durch das NS-Regime angelastet. Doch der Mann, der im Glaskasten stand, der zu seinem Schutz geschaffen worden war, überraschte weniger durch eine bestialische Ausstrahlung als vielmehr durch eine erschreckende Mittelmäßigkeit.

Erschreckende Normalität

Die deutsch-amerikanische Philosophin und Publizistin Hannah Arendt, die den Prozess für die US-Zeitschrift New Yorker beobachtete, regte die Person Eichmann zur berühmt gewordenen Beschreibung der "Banalität des Bösen" an: "Das Beunruhigende an der Person Eichmanns war doch gerade, dass er war wie viele und dass diese vielen weder pervers noch sadistisch, sondern schrecklich und erschreckend normal waren und sind", schrieb sie im Buch "Eichmann in Jerusalem", einer editierten Fassung der Prozessberichte, die sie für den "New Yorker" verfasst hatte.

Das Böse sei demnach etwas, das täglich passiert, und insofern sei es banal, sagte Natan Sznaider vom Academic College Tel Aviv-Yaffo bei einer Tagung über Hannah Arendt, die vergangene Woche in Wien stattfand. Sie wurde vom Wiener Wiesenthal-Institut für Holocaust-Studien, dem Internationalen Forschungszentrum für Kulturwissenschaften der Kunstuniversität Linz und dem Wien-Museum veranstaltet und unter anderem vom Wissenschaftsministerium unterstützt.

Eichmann gab sich vor Gericht wie ein durchschnittlicher Kleinbürger. Auf Fragen nach seiner Tätigkeit antwortete er mit Klischees und Worthülsen, als ob es sich um völlig alltägliche Vorgänge gehandelt habe. Eichmanns Kampf mit der deutschen Sprache hinterließ einen deutlichen Eindruck bei Arendt: "In Eichmanns Mund wirkt das Grauenhafte oft nicht einmal mehr makaber, sondern ausgesprochen komisch."

Eichmann wies im Prozess zwar nicht alle Verantwortung von sich, er präsentierte sich aber vor allem als Befehlsempfänger, der Anweisungen von oben zu gehorchen hatte. Weiters behauptete Eichmann auch, "kein Judenhasser" zu sein – er hätte auch seinen eigenen Vater umgebracht, wäre es ihm befohlen worden. Arendt und andere Beobachter nahmen Eichmann diese Darstellung ab. Doch seit den 1990ern sind historische Dokumente ans Licht gekommen, die Eichmanns Selbstdarstellung deutlich machen.

Ein wichtiger Schlüssel dabei sind die Aufzeichnungen Eichmanns, die er nach 1956 im argentinischen Exil verfasste. Da diese über mehrere Archive verstreut und teilweise verschwunden waren, war die Aufarbeitung entsprechend mühevoll. Die unabhängige deutsche Philosophin Bettina Stangneth leistete dabei Pionierarbeit und spürte eine Vielzahl einzelner Blätter in verschiedenen Archiven auf. Das Ergebnis ihrer Analyse legte sie 2011 in "Eichmann vor Jerusalem" vor, das einen Eichmann zeigt, von dem Arendt nichts wissen konnte.

"Wenn ein Lügner Erfolg haben will, dann muss er sich bemühen, keine Fehler in der Darstellung der Wirklichkeit zu machen", sagte Stangneth bei der Wiener Tagung. Eichmann hat das bewerkstelligt, indem er sich an seine Behörde erinnert hat und an die Personen, die täglich bei ihm zum Rapport erschienen sind. Stangneth: "Er ist in deren Rollen geschlüpft, bis ins Verhalten hinein. Das ist das Erfolgreichste, was ein Lügner machen kann: Er imitiert ein anderes Leben."

Das Innere der Maschinerie

Somit hat Eichmann unfreiwillig den Vorhang geöffnet und den Beobachtern des Jerusalemer Prozesses einen Einblick ins Innere der Vernichtungsmaschinerie ermöglicht. So hat Arendt tatsächlich mit der "Banalität des Bösen" etwas hoch Relevantes erkannt, so Stangneth, "Eichmann war einfach nur das falsche Beispiel". Die Holocaust-Studien würden Arendts Buch einen wichtigen Impuls verdanken, "ohne 'Eichmann in Jerusalem' wäre vermutlich nie so gründlich über die Täterfrage im Nationalsozialismus nachgedacht worden", sagte Stangneth.

Die Frage von Schuld und Verantwortung, die Arendt in ihrem Werk verhandelt, könne allerdings nicht nur für die Holocaust-Forschung herangezogen werden. Devrim Sezer von der Wirtschaftsuniversität Izmir legte Arendts Theorien etwa auf seine Überlegungen zum Genozid an den Armeniern um. Er sprach sich für eine offizielle Anerkennung des Genozids von türkischer Seite aus und berief sich auf Arendt, indem er sagte: "Die Gefühle von Schuld machen nicht so viel, Verantwortung ist eine bessere Antwort." Arendt würde in der Türkei seit den 1980er-Jahren verstärkt gelesen, was für Sezer auch mit den dortigen politischen Krisen in Zusammenhang steht.

Gemeinsames Denken

Stangneth hob Arendt aber auch als Pionierin auf einem anderen Gebiet hervor: dem dialogischen Denken. "Es herrscht die eigentümliche Meinung vor, dass ein Philosoph nicht von einem anderen Denker beeinflusst sein darf, also charakteristisch denken muss", sagte Stangneth. Arendt habe hingegen diesen einsamen Denkweg für eine Sackgasse gehalten. Das erklärte Ziel ihrer Beziehungen sei es gewesen, ein anderes Denken zu versuchen "und eine neue Qualität der Erkenntnis zu gewinnen".

Stangneth findet es nicht verwunderlich, dass Arendts Bemühungen, in Symbiose zu denken, auch mit körperlicher Intimität verbunden waren. Ihr Verhältnis mit dem deutschen Philosophen Martin Heidegger ist zwar legendär, aber es gebe eine lange Liste an Geistesgrößen, mit denen Arendt Affären hatte. Man stelle sich Frauen gern als Opfer vor. Arendt hingegen sei einfach freier gewesen als die meisten.

"Man sieht nur Betrogene und Dramen, wo in Wirklichkeit eine neue Form des Lebens stattfindet", sagte Stangneth, die in Arendt eine emanzipierte Frau sieht. "Arendt wollte lieber intelligent als niedlich sein" und ist gerade dadurch ein besonderes Beispiel für "die enorme erotische Anziehungskraft einer hochintellektuellen Frau". (Tanja Traxler, 28.6.2017)