Ö1-Journalistin Renata Schmidtkunz im Gespräch mit dem Literaturwissenschafter Silvio Vietta im Rahmen der 36. Salzburger Vorlesung in den Räumen der Salzburger Universitätsbibliothek.

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Salzburg – Die als europäische Denkform entstandene Rationalität habe zwar – vor allem in ihrer technischen Ausprägung – den gesamten Globus erobert, sich aber wenig "um die Folgelasten ihrer eigenen Erfolgsgeschichte gekümmert": Aus dieser Diagnose und der "Einseitigkeit" dieser Rationalität leitet der 1941 in Berlin geborene Literaturwissenschafter Silvio Vietta seine Forderung ab, der Rationalität Grenzen zu setzen, wie er bei einer von der Universität Salzburg veranstalteten "Salzburger Vorlesung" im Gespräch mit Ö1-Journalistin Renata Schmidtkunz sagte.

Wenn Vietta – er ist emeritierter Professor an der Universität Hildesheim – von Rationalität spricht, meint er vor allem Denkformen, "die sich im praktischen Bereich ausgewirkt haben". Dazu gehörten "die Geldwirtschaft" oder auch "effiziente Formen der Kriegsführung", aber auch neue Formen der Naturwissenschaften, die vor allem "auf Quantifizierbarkeit" ausgerichtet seien.

Vietta gilt als Mitbegründer der Europaforschungen ("Europäistik"). Diese Sparte der Kulturwissenschaft will an die Stelle nationaler Kulturwissenschaften wie Slawistik oder Romanistik eine europäische Dimension setzen. Auch aus dieser Sicht plädiert Vietta für mehr Reflexivität, für mehr Nachhaltigkeit bei der Rationalität: Die enorm effizienten Strategien des europäischen Denkens hätten die Welt zwar erobert, aber es habe dabei immer "Rationalitätssieger und Rationalitätsverlierer" gegeben.

Geldwirtschaft und Kriegstechnik

Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die Zahl, ist die Messbarkeit der Welt. Laut Vietta ist das vor etwa 2.700 Jahren entstanden. Damals sei es zu einer "Revolution der Rationalität" gekommen. Das Wichtigste sei die Erfindung einer Wissenschaft gewesen, die die Welt nicht mehr mythisch, sondern "aus stofflichen Prinzipien" zu erklären versuchte. Die frühe griechische Philosophie sei die Erste gewesen, die versucht habe, die Welt rational aus stofflichen Prinzipien wie zum Beispiel Atomen zu erklären.

Dazu komme in dieser Zeit die Erfindung der Geldwirtschaft als rationale Bemessung von Waren und Dienstleistungen; "das Arm-Reich-Problem entsteht genau in dieser Phase ganz stark". Auch die Kriegstechnik sei in dieser Zeit verändert worden. Die Griechen hätten mit der Phalanxform eine neue Kriegstechnik angewandt. Erstmals seien damit nicht die Männer als Einzelkämpfer "aufeinander losgegangen", sondern in einem geometrischen Block, Schild an Schild, angetreten. Damit hätten sie die Perser geschlagen.

Letztlich sei mit dieser Technik eintausend Jahre lang die Welt beherrscht worden, weil die Römer alles übernommen hätten. Ähnlich sei das dann in der Neuzeit mit der Erfindung der Feuerwaffen gelaufen. Nur mit solchen effizienteren Strategien seien kleine Länder wie Griechenland, Rom und später beispielsweise Spanien, Portugal und England in der Lage gewesen, die gesamte Welt zu beherrschen.

Gold und Irrationalität

Für den "absoluten Missbrauch der Rationalitätskultur" nennt Vietta Deutschland und das Hitler-Regime als Beispiel. Deutschland sei ein hochindustrialisierter Staat gewesen und die Techniker in der Lage, "furchtbare Waffen" zu bauen – das machte die deutsche Überlegenheit zu Kriegsbeginn aus.

Rationalität und Irrationalität würden sich hier wechselseitig bedingen. Schon die Kolonialgeschichte sei "von einem Motor der Irrationalität" angetrieben worden. "Es geht um Geld und Gold." Man habe sich bereichert ohne Ende – von den Römern über den Islam und bis in die Kolonialzeit setze sich das fort. Das reiche bis zu den modernen Machtmitteln, die technische Geräte heute mit sich bringen.

Vietta plädiert für "vernünftige Formen" im Umgang mit den Mitmenschen und der Natur "statt des reinen Ausbeutungsmodells" – nicht zuletzt durch einen Kurswechsel gegenüber dem afrikanischen Kontinent, wo der Imperialismus der Ausfluss der Rationalitätskultur sei. (Thomas Neuhold, 29.6.2017)