Unser Zug nach Hogwarts fuhr mit Verspätung ab. Als vor 20 Jahren der erste Harry-Potter-Band in Großbritannien erschien, war meine Tochter noch keine drei Jahre alt und vergnügte sich mit der kleinen Raupe Nimmersatt. Den Namen J. K. Rowling hörte ich erstmals 1999, als der damalige STANDARD-Kulturressortleiter Claus Philipp einen Kopf des Tages über die bis dahin in Österreich noch wenig bekannte Autorin schrieb. Da war gerade der dritte Band, "Harry Potter und der Gefangene von Askaban", erschienen und begeisterte die immer größere Fangemeinde des Zauberlehrlings. Das könnte doch etwas zum Vorlesen sein, dachte ich mir. Etwas später, denn unsere Tochter war noch gar nicht in der Schule und unser Sohn erst zwei.

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20 Jahre Harry Potter: Zum Jubiläum erschien eine Neuauflage.
Foto: Reuters/KOegh

Die Potter-Serie war bereits im vierten Band angelangt, als Harry, Ron, Hermine, Dumbledore, Voldemort, Snape und all die anderen Zauberer bei unserer zauberkraftlosen Muggel-Familie einzogen. Eine Kollegin borgte meiner Frau den dritten Band, und sie begann aus den 450 Seiten abends vorzulesen. Gespannt hörte unsere Tochter zu, verlangte immer mehr, und als ihr Betteln nicht mehr wirkte und das Licht ausging, nahm meine Frau das Buch und legte sich aufs Sofa. Dort lag sie noch am nächsten Morgen und ebenso am Abend. Nur kurz holte sie sich etwas zum Essen, um gleich darauf nach Hogwarts zurückzukehren. 30 Stunden lang war sie unansprechbar, bis sie mitten in der Nacht das Buch abschloss.

Am nächsten Morgen forderte meine Tochter lautstark ihre Harry-Potter-Fortsetzung, doch als ihre übermüdete Mutter ausließ, nahm sie das Buch einfach selbst zur Hand und las weiter. Aufs Vorlesen wollte sie in den kommenden Tagen dennoch nicht verzichten, "Mummy, du liest so schön vor." Sie wusste schon damals, wie man Eltern verzaubert.

Vorlesen als Einstiegsdroge

Erst ein Jahr später erschien der "Orden des Phönix". Diesmal wurde ich, der bis dahin die Zauberei nur aus der Ferne verfolgt hatte, zum Vorlesen vergattert. Nach ein paar Seiten war ich gefesselt. Das war kein Kinderbuch, hier ging es um politische Intrigen und die perfide Rolle manipulierter Medien – Fake-News, wie es heute heißt. Ein typischer Kampf zwischen Licht und Dunkel zwar, aber voller komplexer Schattierungen. Ich las das Buch zu Ende, holte mir die ersten vier Bände aus dem Kinderzimmer und verschlang sie in schlaflosen Nächten. Das hatte ich seit Teenagerjahren nicht mehr getan.

Untrüglich echt

Viele Dutzend Charaktere hat Rowling in ihrem beinahe shakespearehaften Universum geschaffen, und jeder einzelne war zwar Fantasie in einer Fantasie, aber in seiner Lebendigkeit untrüglich echt. Rowlings Sprache war genauso unprätentiös wie präzise, kaum ein Wort war überflüssig. Allein der erste Satz des ersten Bandes "Harry Potter and the Philosopher’s Stone (... und der Stein der Weisen)""Mr. and Mrs. Dursley of number four, Privet Drive, were proud to say that they were perfectly normal, thank you very much" – war vor allem dank des unübersetzbaren "thank you very much" einer der großen Einstiege der modernen Literatur.

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Erschuf eine ganze Fantasiewelt: Autorin J. K. Rowling.
Foto: REUTERS/Neil Hall/File Photo

Harry Potter führte uns als Familie zusammen und spaltete uns zugleich. Als 2005 "Harry Potter und der Halbblutprinz" erschien – unsere Tochter war schon auf dem Gymnasium –, stellte sich die Frage: Wer darf zuerst lesen? Wir milderten den Konflikt mit dem Kauf von zwei Bänden, einem auf Deutsch und einem auf Englisch.

Inzwischen waren die Figuren aus den Köpfen auf den Bildschirm gewandert. Daniel Radcliffe und Emma Watson nisteten sich über Videokassetten im Wohnzimmer ein und wurden genauso ein Teil unserer Familie, wie es Harry und Hermine schon lange gewesen waren.

Muss Hermine sterben?

Für unseren Sohn war dies ein Glück. Auch er wollte Stunden in der Zauberschule Hogwarts, der Winkelgasse oder im Zauberministerium verbringen, aber dies nicht selber lesen. So bekam er die neueren Bände vorgelesen und holte die älteren vor dem Bildschirm nach. Es würde noch Jahre dauern, bis er den Spaß am Lesen entdeckt. Da war die Hogwarts-Zeit längst vorbei.

Mit dem "Halbblutprinzen" begann für uns die intensivste Potter-Zeit. Nur noch ein Band stand bevor – das hatte Rowling klargestellt –, doch so viele Fragen waren offen. Würde Hermine tatsächlich sterben müssen, damit Harry überlebt – diese Hypothese hatte der deutsche Germanist Michael Maar 2003 in seiner kurzen Schrift "Warum Nabokov Harry Potter gemocht hätte" vertreten, wobei er auch auf ihren englischen Namen Hermione (in der griechischen Mythologie Helenas Tochter) Bezug nahm. Diese Prognose trieb uns abends Tränen in die Augen.

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Harry-Potter-Fans in Londons U-Bahn.
Foto: REUTERS/Neil Hall

Noch mehr beschäftigte uns das Snape-Problem. Der sadistische Lehrer hatte im sechsten Band seinen Freund, den weisen Schuldirektor Dumbledore, getötet. War er tatsächlich ein Anhänger des bösen Voldemorts – oder war der Tod ein von Dumbledore ausgeheckter Plan, damit Harry Voldemort besiegen und die Zauberwelt erlösen kann? Mit dieser These geriet unsere Tochter in heftige Diskussionen mit ebenso Potter-süchtigen Freundinnen.

Zwei Jahre dauerte es bis zur Veröffentlichung des letzten Bandes, eine qualvoll lange Zeit. Den 21. Juli 2007 konnten wir kaum erwarten. Da wir in Südtirol auf Urlaub waren, erschien eine Postbestellung zu unsicher. Statt dessen fuhren wir nach Bozen, wo sich im Buchladen die englischsprachigen Bände von "Harry Potter and the Deathly Hallows" stapelten. Gegen massiven Widerstand bestand ich auf das Jus primae Noctis. Aber ich musste versprechen, das Buch bis zum nächsten Morgen zu Ende zu lesen.

Zur Frühstückszeit fehlten mir noch 150 Seiten. In Panik raste ich durch die letzten Kapitel und wurde gerade noch fertig, bevor meine Tochter mir das Buch entriss. Erst dann war meine Frau dran.

Erwachsen und normal

Erst nach ein paar Tagen konnten wir miteinander wieder reden – über die dramatische Schlussszene und den etwas banalen Epilog, der jedoch den Bogen zum Anfang spannt. Hermine hatte überlebt, Snape sich für Harry aufgeopfert. Dieser war nun erwachsen und "perfectly normal" – ganz wie die eigene Familie. Bloß unser Sohn wollte nicht mitreden: "Ich warte auf den Film", sagte er cool.

Auch die letzte Verfilmung kam schließlich in die Kinos, aufgeteilt auf zwei Teile. Im Sommer 2011 verabschiedeten wir uns mit einem Kinobesuch endgültig aus Hogwarts. Das Ende der Schulzeit, das wurde uns bewusst, war auch bei uns allmählich in Sicht.

Manchmal träume ich davon, dass eine verarmte Schriftstellerin in einem Kaffeehaus eine weitere Welt erschafft, in die ich mit meiner Familie versinken kann. Aber es kann keinen zweiten Harry Potter geben. Wir leben nur einmal. (Eric Frey, 30.6.2017)