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Bis zum Gipfel des Mount Katahdin in Maine hat es Henry David Thoreau nicht geschafft.

AP Photo/Robert F. Bukaty

Bevor wir alle wegfahren in diesem Sommer, wollen wir uns vielleicht noch fragen, ob sich das überhaupt auszahlt. Nicht jeder sah im Reisen nämlich das unbedingte Must, das es heute für uns zu sein scheint, ein gewisser Edward Dahlberg meinte gar: "Wer feststellt, dass sein Leben wertlos ist, der begeht entweder Selbstmord oder er geht auf Reisen." Henry David Thoreau wiederum schrieb mit Walden oder Leben in der Wäldern so etwas wie das Buch der Sesshaftigkeit schlechthin (siehe Seite A 4), während sein Kollege Ralph Waldo Emerson das Reisen "des Narren Paradies" nannte, "der Weise" bleibt seiner Meinung nach schlicht zu Hause. So wie der Philosoph Immanuel Kant, der sein ganzes Leben innerhalb der Grenzen seiner schönen Heimatstadt Königsberg verbrachte.

Die Wege, die er dort ging, kann man heute natürlich pauschal "Auf den Spuren Immanuel Kants in Königsberg" hinter kundigen Reiseführern ablaufen. Die Reisefreude des obersten Furchentreters Karl May konnte schon wegen diverser Aufenthalte in Arbeitshäusern oder wegen schlichter materieller Not nicht mit seiner wilden Fantasie mithalten, die ihn Von Bagdad nach Stambul oder ins Land der Skiptetaren trug. Der dänische Regisseur Lars von Trier schließlich erträgt Reisen wegen seiner psychischen Verfasstheit nicht, ein Ausflug von Dänemark nach Cannes in Südfrankreich bereitet ihm Höllenqualen, an Fliegen ist dabei nicht zu denken. Und Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek hockt lieber in ihrer Stube, wo es am schönsten ist, weil sie an einer sympathischen Sozialphobie leidet. Am Strand von Jesolo inmitten anderer Sonnenunhungriger wird man sie nicht finden.

Hausmeister in der Mongolei

In sozialen Medien gilt aber schnell als Außenseiter, wer nicht mindestens 300 Städte nachweislich besucht hat, "quantified self" heißt das Modewort, mit dem man auch die eigene Reisefreude misst. Gezählte 111 Gründe, um die Welt zu reisen (Schwarzkopf & Schwarzkopf) fielen immerhin der Reisebloggerin Marianna Hillmer ein, und sie zählt sie in ihrem Buch auch alle auf: "weil Karaoke singen in der Mongolei Spaß macht"; "weil man sich in Indien von Wunderheilern kurieren lassen kann"; "weil eine Olive ein Geschenk der griechischen Götter ist". Oder darf's ein etwas deftigerer sein? "Weil man das Oktoberfest erlebt haben muss!"

Man sieht schon daran, wie klein die Welt geworden ist seit den Zeiten Karl Mays, denn mittlerweile war schon jeder zweite Hausmeister in der Mongolei. Erwartbar bescheiden sind dann auch die Erkenntnisse, welche die Autorin von ihren Reisen mit nach Hause bringt: "Die Ausgaben hängen stark von den gewählten Komfortansprüchen und dem gewählten Reiseland ab." Wer das bisher nicht wusste, der kann vielleicht folgenden Tipp beherzigen: "Beim Packen die Kleidung aufeinander abstimmen!", damit farblich auch alles passt, wenn man zum Beispiel in Short und Shirt einen "Kulturschock in Old Delhi" erleidet.

Einen größeren Teil ihres sehr schlichten Ratgebers widmet Hillmer dem Kulinarischen: "Weil es in Paris die leckersten Konditoreien gibt!", führt sie als weiteren Grund an, oder "weil im Osten kulinarische Entdeckungen warten!". Sie findet dabei natürlich alles "unfassbar faszinierend", wenn sie nicht überhaupt alles "liebt", darunter wenig überraschend alle "einheimischen Märkte". Die Art ihres Vorbringens erinnert an die seligen Zeiten des Diavortrages, den wir über uns ergehen lassen mussten, sobald Onkel Fritz seinen Opel Rekord unfallfrei über den Plöckenpass Richtung Süden brachte: "Da sind wir in Italien. Da essen wir Spaghetti."

Selfie mit Taxi um vier Uhr

"Primitivste Freizeitbeschäftigung" nannte eine gewisse Spaziergängerin namens Vita Sackville-West das Reisen, vielleicht musste sie zu viele Diavorträge über sich ergehen lassen. Sie und oben erwähnter Edward Dahlberg werden in Matthias Debureaux' wunderbarem Ratgeber Die Kunst, andere mit seinen Reiseberichten zu langweilen (Nagel & Kimche) zitiert. Über schmale 100 Seiten erfahren wir Gelehrtes darüber, wie wir schon vor Abreise die Nerven unserer Mitmenschen strapazieren können: Selfie mit Taxi um vier Uhr morgens, Selfie am Flughafen, Selfie beim Check-in.

Das machen aber mittlerweile auch die Amateure. Richtige Profis stellen daher schon Monate vor ihrer Abreise die neu gekauften Trekkingschuhe oder den Inhalt ihres Rucksackes ("Planflöte, eine Dose Bärenspray") ins Netz und lassen "den Schwarm" über mögliche Reiserouten während der "Tandemfahrt durch Jakutien" abstimmen. Impfungen, live aus der Arztpraxis übertragen, kommen immer gut an, und während wir uns dann verabschieden, lassen wir Sätze fallen wie: "Letztes Jahr reiste ich noch nach Indien, heuer reise ich zu den Indern."

Waren wir schließlich in der Mongolei oder auf dem Oktoberfest, müssen wir unbedingt als "Träumeschmuggler" zurückkommen, und um bei den Daheimgebliebenen Neugier auf unsere Abenteuer zu schüren, deuten wir nur an: "Dieses Land kann man gar nicht in Worte fassen." Allerdings tun wir genau das in der Folge natürlich trotzdem, und zwar "ohne Gliederung", die eine Reiseerzählung nicht brauche, "es genügt der reine Überschwang" des Onkel Fritz. Immerhin haben wir und er "die Fremde gezähmt" und dabei "die Seele eines Volkes ausgelotet", und weil das so ist, vergessen wir auch nicht darauf hinzuweisen, dass selbst "die längste Reise der kürzeste Weg zum eigenen Ich" ist.

Wollen Sie als Welteneroberer glaubwürdig sein? Dann sollten Sie bereits "mit acht das Gesamtwerk von Joseph Conrad gelesen" haben, wie Sie sich überhaupt mit Vorbildern schmücken sollten, die Ihnen gewachsen sind (Marco Polo, Lawrence von Arabien!). Besondere Momente Ihrer Reise können Sie dann als Mitglied dieses erlauchten Zirkels immer wieder erzählen, zum Beispiel "die ungestüme Leidenschaft, die ich mit der Bäuerin in den Karpaten auslebte!" Mit Schlüsselbegriffen (Russe = trinkfest, Italiener = kinderlieb) umschreiben Sie die jeweilige Volksseele, und selbstverständlich haben Sie sich jede Stadt "erarbeitet", nach 24 Stunden spätestens aber auch auf Spitzbergen "wahre Freunde" gefunden. Und falls Sie zum Beispiel in Togo waren, dann vergessen Sie nicht darauf hinzuweisen, dass sich dort noch heute jeder an Ihre "ungewöhnliche Ausdauer beim Djembétrommeln" erinnert.

Was Naturphänomen angeht: Wir sahen natürlich keines, das seltener als "nur alle 200 Millionen Jahre vorkommt"! Das wiederum war nur deshalb möglich, weil wir "in perfektem Einklang mit dem rasenden Planeten" stehen. Übertreibungen? Gibt es nicht! Schließlich besuchten wir nicht einfach eine Stadt, sondern eine "Schule des Sehens". Und wenn wir beim gemeinsamen Essen für die Freunde nach unserer Rückkehr das Rezept für die Stierhoden nachkochen, die wir in Wyoming gegessen haben, dann sollten wir, so der Ratgeber, den "real life aspect" ("RLA") nicht ganz vernachlässigen und tiefes Wohlgefühl demonstrieren, wenn wir immer wieder fragen: "Wie seid ihr denn überhaupt zurechtgekommen, während ich weg war?"

Eine winzige Insel

"Kleine Inseln sind der Inbegriff der Widersprüche", schreibt Paolo Rumiz in seinem Buch Der Leuchtturm (Folio-Verlag). "Man sucht sie auf, um Frieden vor der Welt zu finden. Dem Mythos zufolge sind sie der Geburtsort der Götter." Auf eine solche winzige Insel im Mittelmeer nimmt uns der gebürtige Triestiner mit, er ist Reporter für die Zeitung La Repubblica, und sein sehr langsames Buch erinnert uns aufs Schönste daran, welche Aufgabe Literatur auch hat: für uns Welten festzuhalten, die vielleicht bald für immer verloren sein werden – die Nacht, die Stille, die Geräusche des Windes. Mal heißt er Schirokko, mal Tramontana: "Sie ist beständiger, weniger nervös. Sie peitscht das Meer nicht, sie setzt den Wellen Schaum- und Gischtkronen auf."

"Ich habe die Vertrautheit mit der Nacht verloren", schreibt Rumiz, als er dort auf der Insel ankommt und sein Tagebuch beginnt. Es gibt zu viel Licht auf der Erde, auch in der Nacht. Auf dieser Insel aber lebt er ohne Ablenkung mit einem Kapitän, einer "Bronzeskulptur, die Ellbogen auf dem Tisch, wie früher die Bauern. Wie alle, die mit den Armen arbeiten und die Schultern entlasten wollen." Auf dieser Insel schläft Rumiz "wie der Fischer, der angezogen auf die Seile sinkt, ohne Pyjama, Milchkaffee und Brioche".

Er kam hierher angesichts der "Arroganz und räuberischen Mentalität der Gegenwart", um sich an den Mythen zu berauschen. Das Mittelmeer ist ja in Verruf geraten, seit es nur noch in Zusammenhang mit aufgegriffenen oder ertrunkenen Flüchtlingen in unser Bewusstsein dringt. Dabei ist es doch "die Wiege unserer Kultur".

Darf man das so schreiben? Ja, denn es hat sich daran nichts geändert. "Dort liegt Knidos an der türkischen Ägäisküste mit dem fantastischen Turm der Windscheide, die die Welt der Meltemiwinde von der Welt der fliegende Fische im Osten trennt, die in windstillen Nächten leuchtend an der Oberfläche springen, auf den Routen Richtung Zypern und Libanon." Dort lag es schon immer. Und zur Stunde, in der die Calamari gebraten werden, wird auch dort der Wein getrunken. (Manfred Rebhandl, 1.7.2017)