Der Reiseschriftsteller Karl-Markus Gauß: "Ich finde, wenn ich es so sagen darf, dass die Welt überall ziemlich originell ist. Übrigens auch in Estland ..."

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Estland und Russland: Die Brücke zwischen Narwa und Iwangorod heißt "Brücke der Freundschaft", aber sie verbindet nicht, sie trennt.

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STANDARD: Das Erste, was einem zu Estland einfällt, ist der Sprachenstreit. Bis zu 30 Prozent der Bevölkerung sind ethnische Russen, und den meisten von ihnen wird die estnische Staatsbürgerschaft vorenthalten. Ist so etwas heute in Europa vorstellbar?

Gauß: Das widerspricht natürlich den Regeln, die die EU selbst aufgestellt hat. Und mit dieser Politik würde das Land der Ratspräsidentschaft heute über einen Kandidatenstatus nicht hinauskommen.

STANDARD: 2004 hatten Sie hier im "STANDARD" eine Serie über die neuen EU-Beitrittsländer, Sie hatten damals auch Estland besucht, und zwar Narwa, die östlichste Stadt, die am gleichnamigen Fluss liegt, der die Grenze bildet. 95 Prozent sind dort Russen, und Sie haben diesen Konflikt mit einem sehr eindringlichen Bild sichtbar gemacht: dem Friedhof, der auf der anderen Seite des Flusses liegt.

Gauß: Die Sache ist so. Jahrhundertelang gab es auf der einen Seite des Flusses eine zuerst deutsche Stadt, Hermannfeste, dann eine estnische namens Narwa und auf der anderen eine zu Russland gehörende namens Iwangorod. 1945 wurde Estland der Sowjetunion einverleibt, und binnen weniger Jahre wuchsen die beiden Städte zusammen. Seit die Sowjetunion zerfallen und Estland der Union beigetreten ist, ist der Fluss zur Außengrenze der Union geworden. Und beide Seiten geben sich große Mühe, ihre eigenen Einwohner zur höheren Ehre eines Wettkampfs der Systeme zu drangsalieren. Denn natürlich wollen die Bewohner von Narwa hinüber ins russische Iwangorod, und sei es nur, um den Friedhof zu besuchen, und natürlich wollen die Leute von Iwangorod nach Narwa, und sei es nur, um dort westliche Waren einzukaufen. Die Brücke zwischen den zwei Städten und Staaten heißt "Brücke der Freundschaft", aber sie verbindet nicht, sie trennt.

STANDARD: Andererseits kann man die Angst der Esten vor den Russen verstehen. Sie sind eine relativ junge Nation und waren lange von Russifizierung bedroht. Heute sind die russischen Minderheiten im gesamten Baltikum und in der Ukraine zum Faustpfand Putins geworden.

Gauß: In den 45 Jahren, in denen Estland zur Sowjetunion gehörte, wurde dort unleugbar tatsächlich eine Politik der Russifizierung betrieben. Jeder Este hat in dieser Zeit Russisch gelernt, von den russischen Kadern jedoch, die ins Land kamen, hat sich kaum jemand die Mühe gemacht, Estnisch zu erlernen. Es war für sie einfach nicht nötig, weil sie mit Russisch auskamen. Das ist in der Ukraine oder in Moldawien nicht anders gewesen. In fünfzig Jahren und über drei Generationen haben die Russen dort die jeweiligen Landessprachen nicht besser erlernt als die Frauen anatolischer Gastarbeiter, die von ihren Männern in Österreich unter Verschluss gehalten wurden und denen man das heute heftig als verweigerte Integration vorzuwerfen pflegt. Dabei waren die Russen zumeist Angehörige der militärischen, politischen, ökonomischen, kulturellen Führungsschicht! Es ist also nicht unverständlich, wenn die baltischen Staaten, die Ukraine, die Republik Moldau ihre Nationalsprachen aufwerten wollten, kaum dass sie nicht mehr unter sowjetischer Kuratel standen; aber es ist dennoch nicht nur politisch falsch, sondern ein Unrecht, wenn sie die Nachfahren der Russen, die 1945 ins Land kamen, sprachpolitisch benachteiligen.

STANDARD: Moldawien ist ein ebensolches Beispiel, und gerade diesem Land widmen Sie sich in Ihrem jüngsten Buch, "Zwanzig Lewa oder tot", das heuer im Jänner erschienen ist, ganz besonders. Der östliche, überwiegend von Russen bewohnte Teil hat sich ja für unabhängig erklärt und sich gleichzeitig in direkte Abhängigkeit vom ehemaligen Mutterland begeben. Ist eine Lösung überhaupt noch denkbar?

Gauß: Diese 1990 proklamierte Republik Transnistrien wird ja von niemandem, nicht einmal von Russland selbst, anerkannt. Noch heute lebt das Land davon, die riesigen sowjetischen Waffenarsenale, die dort deponiert waren, in alle Krisenregionen der Welt zu verscherbeln. Eine Fahrt durch dieses blitzsaubere Ländchen ist übrigens spannend wie eine Überlandfahrt durch ein Militärmuseum. Alle paar Hundert Meter stehen gewaltige Denkmäler zu Ehren der Roten Armee, uralte Panzer als Schaustücke, Flugzeuge aus dem Zweiten Weltkrieg ...

STANDARD: Auch hier ein "eingefrorener Konflikt". Wie sehr hat das mit der Sprache zu tun, die ja etwas Lebendiges, sich Veränderndes ist?

Gauß: Nun, in Moldawien gibt es überall Russen, und nicht erst seit 1945. Als sich 1991 die Republik Moldau für souverän und das Rumänische zur Staatssprache erklärte, kam es zu einem kurzen, hitzigen Sprachenstreit, der längst beigelegt ist. Das antirussische Sprachgesetz wurde zurückgenommen, ich glaube, nicht nur aus politisch-taktischen Gründen, sondern weil es den Realitäten einfach nicht entsprochen hat. Allerdings sollte man zur Vorgeschichte wissen, was bei uns kaum bekannt ist: dass nämlich in der sowjetischen Ära ein brachiales Sprachgesetz in Kraft war, wonach das Moldawische – das ja nichts anderes ist als das Rumänische – nur mehr in cyrillischen Buchstaben geschrieben werden durfte! Man muss sich das vorstellen: Da wurde, von Moskau verfügt, bürokratisch eine neue kleine Sprache kreiert, das "Moldawische", damit in der Moldau nicht irgendwann womöglich großrumänische Sehnsüchte erwachten. Schriftsteller oder Lehrer sind jahrelang als vermeintliche "Nationalisten" geächtet worden, nur weil sie das Unabweisbare behaupteten: dass ihre Muttersprache Rumänisch sei und nicht "Moldawisch" und dass diese Sprache historisch immer mit lateinischen, nicht mit cyrillischen Buchstaben geschrieben worden ist. Und 1991 wurde auch von vielen Kommentatoren im Westen sofort die russische Perspektive übernommen: dass nämlich die bösen Nationalisten die Moldawier oder die Esten, Letten, Ukrainer wären, deren Sprachen in der sowjetischen Ära als rohe Bauerndialekte abgewertet worden waren.

STANDARD: Für Ihr letztes Buch waren Sie quer auf dem Balkan unterwegs, in Kroatien, Serbien, Bulgarien und eben in der Republik Moldau. Sie meinten einmal, Moldau hätte Sie am meisten beeindruckt, Ihre Reiseerzählung trägt denn auch den Titel "Meine moldawische Sehnsucht".

Gauß: Moldau ist das ärmste Land Europas. Das Elend ist himmelschreiend, es gibt Regionen, in denen man nur alten Menschen und Kindern begegnet, weil die arbeitsfähige Bevölkerung entweder in Russland oder irgendwo im Westen schuftet – in Russland übrigens mit gültigen, die Moldawier in gewissem Sinne sogar begünstigenden Verträgen, im Westen oft illegal. Aber wenn man sich in Chi?inau, der Hauptstadt, ein bisschen länger umschaut, begegnet man einer ungemein lebendigen und kulturell vielseitig interessierten, politisch renitenten Gesellschaft. Es ist herrlich, in einem der zahllosen Gastgärten oder Parks zu sitzen und zu sehen und zu hören, wie sich die Jungen über die alten Gegensätze im alltäglichen Verhalten hinwegsetzen: Da schmachten sich ein Bursche und ein Mädchen inniglich an, und sie wirbt um ihn mit Kosewörtern, an denen die russische Sprache bekanntlich so reich ist, und er antwortet auf Rumänisch, wie man es sich zärtlicher kaum vorstellen kann. Die Moldawier sind in ihrer alltäglichen Kultur viel weiter entwickelt als ihr Staat in seiner politischen. Nirgends in Europa, nebenbei angemerkt, sind die Roma so respektiert und in manchen ökonomischen Bereichen so erfolgreich tätig wie in Moldau.

STANDARD: Eine politische Perspektive gibt es aber nicht.

Gauß: Moldawien bildet eben ein Zwischenland, liegt in der Einflusszone von Russland, der Türkei, der Europäischen Union. Der Nationalitätenkonflikt wird künstlich aufrechterhalten – die Türkei hält es etwa mit der turkstämmigen Minderheit der Gagausen im Süden. Dabei verstehen sich nicht nur die sogenannten einfachen Leute gut, sondern auch die Eliten: Die größten Korruptionisten, die sich den Staat unter den Nagel gerissen haben, sind zu gleichen Teilen russische und rumänische Oligarchen. Im Parlament beflegeln sie sich auf die rüdeste Weise, bei der Ausplünderung des Landes hingegen arbeiten sie einträchtig zusammen.

STANDARD: Der Rest Europas tut sich schwer, für ein solches Land Interesse aufzubringen. Vor allem uns Österreichern ist der Osten überhaupt fremd geworden: Der Konflikt in der Ukraine berührt uns ja auch nicht, geht uns scheinbar nichts an, dabei war die Westukraine einmal Teil der Monarchie. Haben wir, wie Sie in einem Ihrer früheren Bücher schrieben, unsere Geschichte tatsächlich so nachhaltig entsorgt, dass viele auch gar nicht den Sinn der Europäischen Union begreifen?

Gauß: Wir neigen derzeit dazu, die EU für alles und auch für das Gegenteil davon zu kritisieren: weil sie sich zu viel einmische in die Belange der einzelnen Staaten und weil sie zu wenig an gemeinsamer Politik etwa bei den Flüchtlingen zuwege bringe. Es sind oft dieselben Leute oder Parteien, die der EU fortdauernd eine anmaßende Einmischung vorwerfen und dann triumphalistisch betonen, wie erfolglos die EU wieder einmal agiert habe. Auf der anderen Seite gibt es wiederum Leute, die auf überspannte Weise glauben, die EU wäre in der Lage, für alle Probleme des Kontinents und der Welt stets die richtige Lösung parat zu haben. Noch einmal Moldawien, als Beispiel: Wir dürfen dieses Land nicht vergessen, müssen wirtschaftliche Kooperationen – die nicht auf bloße Ausbeutung der dortigen Ressourcen hinauslaufen – fördern und dabei dennoch nicht jenen Druck aufbauen, der da simpel verlangt: Wir oder die anderen, entscheidet euch gefälligst mit Haut und Haar für die Union oder schaut, wo ihr bleibt. Das geht schief, einerseits, weil wir ihnen zu wenig zu bieten haben, und andererseits, weil es die historisch geformte multiple Identität der Leute und des Landes nicht berücksichtigt.

STANDARD: Ein Europa der Vielfalt wird oft beschworen, aber gleichzeitig beklagt, dass es unterschiedliche Narrative habe. In welche gemeinsame Erzählung müsste man die zusammenfassen?

Gauß: Ich bin gegen manche Wörter allergisch, zum Beispiel gegen das neuerdings omnipräsente "Narrativ", die vermeintlich große Erzählung, die allen Unterschieden gerecht wird, aber alle Konflikte zauberisch überwölbt. Wer ein Europa der Vielfalt predigt – wie ich das ja tue -, der kann nicht auf die Wunderkraft der einen großen europäischen Erzählung setzen. Es sei denn, es wäre eben die Erzählung von der Vielfalt, die Verheißung eines Reiches, in dem viele Sprachen, Religionen, Kulturen mitsamt ihren Besonderheiten und Eigenheiten friedlich koexistieren, ja diese Vielfalt das eigentlich Großartige und Schützenswerte des Kontinents bedeutet. Schöne Erzählung! Die schnöde Realität zeigt halt leider oft die bösartige Eigenschaft, sich nicht an das gewünschte "Narrativ" zu halten.

STANDARD: Sind die, die an ein solches Europa glauben, zu utopistisch?

Gauß: So würde ich es nicht sagen. Sie sind nur vielleicht zu sehr in ihre eigenen Ideen verliebt, als dass sie in der widersprüchlichen Realität selbst nach dem suchten, was uns alle weiterbrächte. Bilden wir uns übrigens auf die Vielfalt – in die ich selbst ja vernarrt bin und der nachzuspüren ich die Hälfte meiner Bücher gewidmet habe – nicht zu viel ein: Auch Afrika nimmt sich nur von europäischer Warte aus vermeintlich homogen aus, und allein in Indien werden über hundert Sprachen gesprochen.

STANDARD: Sie sprechen von einem Nichts-voneinander-wissen-Wollen, das Europa so lange gelähmt hat. Heute gibt es gerade unter jungen Menschen – man denke nur an die vielen "Auslandsstudenten" – einen regen Austausch, das setzt doch gegenseitige Neugier voraus. Können die Jungen ein neues Europa erfinden?

Gauß: Erfinden, nein, es ist ja schon eines da. Entdecken, das schon. Denn es ist sensationell, wie wenig die Europäer von Europa wissen! Vielleicht sind die jüngeren Europäer gerade dabei, sich gewissermaßen selbst zu entdecken, ohne großes ideologisches Brimborium, das meine Generation noch brauchte.

STANDARD: In Ost wie West fördern europafeindliche Populisten die Wut auf Europa. In Ihren Büchern liest man dagegen von einer ganz anderen mentalen Facette, einer Art von europäischer Melancholie.

Gauß: Melancholie ist eine innige Beziehung zu Dingen, die unrettbar verloren sind. Die Kindheit mit all ihrem Wundersamen kommt nicht wieder, und vieles, was uns wichtig war, ist aus unserem Alltag verschwunden. Melancholie ist aber nicht mit Nostalgie zu verwechseln. Der Melancholiker kämpft auch nicht dafür, dass es wieder so werde, wie es angeblich war, sondern will dem, was im historischen Orkus unwiederbringlich verschwunden ist, Gerechtigkeit widerfahren lassen. Er weiß, dass jeder Fortschritt auch mit Verlusten und Tragödien bezahlt wurde, und er will das Gedächtnis an bestimmte Dinge, Haltungen, Menschen bewahren.

STANDARD: Ist die Melancholie im Osten eine andere?

Gauß: Ja! Sie ist stärker als bei uns sowohl mit fragwürdigen Mythen von völkischer oder nationaler Gemeinschaft als auch mit realen Erfahrungen der Solidarität und des Widerstands verbunden.

STANDARD: Die Literatur, Ihre, reagiert auf diese unterschiedlichen Sichtweisen. Der slowenische Autor Drago Jancar hat einmal geschrieben, er kenne keinen zweiten Autor, der die "reale und die imaginäre Grenze zwischen dem Osten und Westen Europas so leicht überwindet" wie Sie. Wie gelingt Ihnen das?

Gauß: Sofern es mir überhaupt gelingt, dann dadurch, dass ich mir mein Europa reisend in Büchern und in Ländern, also in der Imagination und in der Wirklichkeit, zu erkunden versuche. Ich bin an der Geschichte mit ihren Widersprüchen, aber auch am Augenschein, an der unmittelbar wahrzunehmenden Welt interessiert. Und es reizt mich nur dann zu schreiben, wenn ich mich zu einer Region und ihren Menschen, gleich wo, in eine persönliche Beziehung setzen kann. Ich finde, wenn ich es so sagen darf, dass die Welt überall ziemlich originell ist. Übrigens auch in Estland, aber sicher nicht deswegen, weil dort die Digitalisierung des Alltags am weitesten in ganz Europa fortgeschritten ist.

STANDARD: Und wie passt das mit Ihrer literarischen Feier des Verschwindenden zusammen?

Gauß: Meine geistige Gegenwart reicht vielleicht zehn, zwanzig Jahre voraus, aber 200, 300 Jahre zurück. Ausgerechnet in einer Zeit, in der wir technologisch den größten Zugriff auf Informationen über die ganze Welt haben, hat uns ja die globale Amnesie ergriffen. Gegen sie beharre ich starrsinnig auf der Bedeutung von Wissen und historischer Bildung. Ich bin kein Vordenker. Vielleicht manchmal ein Nachdenker. Vor allem aber bin ich ein Liebhaber der Welt, und wer ein Buch von mir liest, soll das ruhig merken. (INTERVIEW: Gerhard Zeillinger, 1.7.2017)