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Kaum jemand vergisst den Tag seines ersten Kusses. Wenn die Wogen nach oben gehen, der Körper mit einem aufbrausenden Gefühl gefüllt wird. Dann senden abertausende Nervenzellen Signale ans limbische System, wo euphorisierende Endorphine und Hormone ausgeschüttet werden, die Stress abbauen, das soziale Bindungsgefühl steigern und sexuell erregen. Das Herz schlägt schneller, Temperatur und Blutdruck steigen leicht an, die Atmung beschleunigt sich. Der Austausch mit fremdem Speichel stimuliert das Immunsystem. 6,4 Kalorien werden bei einem durchschnittlichen Kuss pro Minute verbraucht. Der 6. Juli wird dem Lippenbekenntnis gewidmet – und gilt seit den 1990er-Jahren als Internationaler Tag des Kusses.

In Österreich beginnt man früh mit dem Schmusen. Laut einer Studie des Markt- und Meinungsforschungsinstituts Integral mit 2.506 Teilnehmern im Alter zwischen 18 und 69 Jahren hatten es die meisten eilig mit ihrem ersten "richtigen" Kuss: 40 Prozent waren 14 Jahre oder jünger, nur 16 Prozent waren 18 Jahre oder älter. Frauen waren dabei noch schneller: 44 Prozent von ihnen waren jünger oder 14 Jahre alt – bei Männern waren es nur 35 Prozent. Nur zehn Prozent der Frauen waren hingegen älter als 18. 41 Prozent aller Teilnehmer gaben an, irgendwo dazwischen, also von 15 bis 17, zum ersten Mal geküsst zu haben.

Fragt man, wie viele Menschen die Österreicher in ihrem Leben schon "richtig" geküsst haben, sagen 73 Prozent, dass sie fünf oder mehr Menschen geküsst haben. Nur eine einzige Person haben hingegen fünf Prozent der Befragten in ihrem Leben geküsst. Drei Prozent sind noch ungeküsst. Erwartungsgemäß zeigen sich hier deutliche Altersunterschiede: Während unter den 18- bis 29-Jährigen acht Prozent noch nie "richtig" geküsst haben, ist es bei den über 30-Jährigen nur ein Prozent.

Symbol, Ritual, Bekenntnis

So genau Wissenschafter die Effekte des Kusses kennen, so wenig lässt sich dieser allein auf seine chemischen Abläufe reduzieren. Der Kuss ist Symbol, Ritual und Bekenntnis zugleich. Schon in der Bibelgeschichte küsste der Apostel Judas Iskariot Jesus von Nazareth, um ihn an die von den Hohepriestern ausgesandten Truppen zu verraten. Dieser Kuss wird daher heute auch als Judaskuss oder Todeskuss bezeichnet. Der erste literarische Beweis fürs Küssen lag zu dem Zeitpunkt aber bereits 3.500 Jahre zurück und findet sich in hinduistischen Veda-Sanskrit-Texten. Küssen wird darin als Berührung von Mund zu Mund erwähnt und als Seelenaustausch zweier Menschen verstanden.

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Einige Forscher gehen davon aus, dass das Küssen so alt ist wie die Menschheitsgeschichte selbst. Für Sigmund Freud lag der Ursprung des Küssens in dem Bedürfnis, als Neugeborenes von der Mutter gestillt zu werden. Eine zweite Hypothese entwickelte 1960 der britische Zoologe Desmond Morris. Er erklärte das Küssen mit der Praxis, sich von Mund zu Mund zu füttern, das schon auf unsere menschlichen Vorfahren zurückgehe und heute immer noch bei Schimpansen verbreitet sei. Allerdings hat Küssen für Schimpansen weniger mit Romantik zu tun, sondern fungiert mehr als eine Art Versöhnung untereinander.

Kaum Küssen unter Tieren

Was Tiere betrifft, scheint das Küssen generell wenig verbreitet zu sein. Sie beschnüffeln sich zwar an den Ohren oder seitwärts am Kopf, von einem intensiven Zungenkuss oder Speichelaustausch kann aber keine Rede sein. Vielmehr verlassen sie sich ganz auf ihren Geruchssinn. Pheromone werden meist im Urin ausgesandt, die den Partner zur Paarung bewegen sollen. Durch einen ausgeprägten Geruchssinn brauchen sie dem Partner nicht so nahe zu kommen, um den Geruch aufzunehmen.

Anders beim Menschen, dessen Geruchssinn vergleichsweise schlecht ausgebildet ist. Um unseren Partner zu "erschnüffeln", müssen wir ihm um einiges näher kommen. Sexualwissenschaftlerin Ingelore Ebberfeld sieht darin auch den Ursprung des Kusses. Genauso gut kann es aber auch eine andere Form des "Näherkommens" sein. So war es in manchen Stämmen auch nicht unüblich, sich statt des Küssens die Augen zu lecken oder an den Wimpern zu knabbern. Zudem gibt es neben dem in unseren Kreisen bekannten Mundkuss auch den Nasenkuss oder Riechgruß, bei dem zwei Menschen ihre Nasen aneinander reiben oder sich mit der Nase berühren.

Wenig Romantik

Diese Erkenntnis spricht dafür, dass sich das Küssen nicht als universelles Phänomen in der Menschheit verbreitet hat, sondern Teil der jeweiligen kulturellen Rahmenbedingungen einer Gesellschaft ist. Tatsächlich hat eine weltweit durchgeführte Studie des "American Anthropologist" aus dem Jahr 2015 gezeigt, dass von 168 verschiedenen Kulturen nur 46 Prozent auf eine romantische Art und Weise küssen. In einigen Regionen gilt das Küssen gar als ekelhaft. Nicht überraschend, wenn man versucht, sich einen Kuss als Leckvorgang der Mundhöhle eines anderen vorzustellen, bei dem nicht nur Speichel, sondern auch Bakterien übertragen werden – 80 Millionen sind es laut Biologen während eines zehn Sekunden langen Kusses.

Für die Österreicher beginnt allerdings erst dann ein "richtiger" Kuss. Für 61 Prozent der Befragten dauert dieser nämlich mindestens elf Sekunden. Wobei für 36 Prozent ein Kuss gar nicht lange genug dauern kann. Hiervon sind Frauen 41 Prozent etwas überzeugter als Männer 31 Prozent. Insgesamt werden hierzulande gerne Küsse aller Art verteilt. 94 Prozent geben ein Küsschen beim Begrüßen und Verabschieden. 40 Prozent sagten, dass ein "richtiger" Kuss beim ersten Kennenlernen erlaubt ist, 30 Prozent lehnen einen Kuss beim ersten Date aber ab. Personen mit Matura- oder Universitätsabschluss sind hier forscher: 51 Prozent sagen, dass ein "richtiger" Kuss beim ersten Kennenlernen beziehungsweise Date erlaubt ist, bei Personen mit Pflichtschulabschluss sind es nur 29 Prozent.

Am liebsten gebusserlt wird erwartungsgemäß mit dem Partner oder der Partnerin: 63 Prozent geben hier ein Bussi. Freunde rangieren auf Platz zwei: Bei insgesamt 63 Prozent geben Frauen aber öfter mal ein Küsschen (72 Prozent) als Männer (53 Prozent). Auch Haustiere werden geschmust: 16 Prozent tun dies.

Alles gelernt

Studien legen nahe, dass das Küssen ein gelerntes Verhalten ist, das sich in seiner heutigen Art und Weise im Zuge der Kolonialisierung und später der Globalisierung von Europa aus ausgebreitet hat. Umso tragischer ist es, wenn dieser Ansatz dazu führt, dass der europäische Kuss als Zeichen einer "überlegenen" Zivilisation wahrgenommen wird, wie es in einigen historischen Aufzeichnungen zu finden ist. So berichtete etwa der englische Anthropologe Ernest Crawley im Jahr 1929, dass das Küssen nur in den "höheren Zivilisationen" wie Europa und Griechenland gefunden werden kann.

Andere Wissenschafter verbinden die Verbreitung des Küssens mit der Rolle von Frauen in der Gesellschaft. Sie führen das auf die unterschiedliche Bedeutung des Küssens für Männer und Frauen zurück. So fanden beispielsweise die amerikanischen Psychologen Wendy Hill und Carey Wilson 2007 heraus, dass Oxytocin beim Küssen nur bei Männern steigt. Das Hormon hat eine beruhigende und befriedigende Wirkung, wenn es ausgeschüttet wird. Die beiden Psychologen folgerten daraus, dass Frauen mehr als nur einen Kuss brauchen, um sich mit ihrem Partner verbunden zu fühlen. Während Frauen aber in einigen Kulturen nicht die Möglichkeit hatten beziehungsweise haben, sich selbst für einen Partner zu entscheiden, sei auch das Ritual des Sich-Küssens weniger stark ausgeprägt. Im Gegensatz dazu haben Frauen mit mehr Macht und Entscheidungsmöglichkeiten die Option, sich bei der Partnersuche mehr Zeit zu lassen und den Partner zuerst mit Küssen "abzutasten".

Abtasten ist wichtig

Tatsächlich rechnen Forscher dem "Abtasten" beim Küssen eine große Bedeutung zu. In einer 2013 publizierten Studie an der Universität Oxford zeigte der Psychologe Rafael Wlodarski, dass Frauen das Küssen in Beziehungen generell wichtiger ist als Männern. Wlodarski führte das darauf zurück, dass Frauen selektiver bei der Auswahl von Partnern vorgehen, da sie durch die neunmonatige Schwangerschaft auch mehr Zeit und Energie in den Nachwuchs stecken.

Das Küssen helfe dabei, die genetische Qualität des Partners festzustellen. Denn über unseren Geruch und Geschmack nehmen wir beispielsweise die MHC-Gene des Partners wahr, die bestimmen, gegen welche Krankheiten ein Mensch immun ist. Der Partner wird umso eher ausgewählt, je verschiedener seine MHC-Gene von den eigenen sind. Das Küssen fungiert so als Instrument, mit dem der gesundheitlich stärkste Partner ausgewählt werden kann. Und wie Tiere stoßen auch Menschen Duftstoffe aus, wie sie etwa im Schweiß vorkommen, die sexuell erregend wirken können. Zusätzlich fand Wlodarski heraus, das Küssen eine größere Rolle in längeren Beziehungen spielt. Das lasse vermuten, dass Küssen auch für die Aufrechterhaltung einer Beziehung wichtig sei.

Küssen könnte also auch einfach nur ein kulturell akzeptiertes Mittel sein, seinen Partner zu "beschnüffeln". Und so wundert es auch wenig, wenn verschiedene Kulturen und Regionen unterschiedliche Kuss- oder "Beschnüffelungsarten" hervorgebracht haben: Während es in Ländern wie Frankreich, Spanien, Belgien, den Niederlanden, Mexiko und Argentinien üblich ist, den anderen zur Begrüßung ein- bis dreimal auf die Wange zu küssen, ist Küssen in Indien oder Thailand eine private Angelegenheit. In China und Japan gehörten öffentliche Küsse lange Zeit zum Tabu und werden erst im Zuge der jungen Generation häufiger ausgetragen. Vor allem Küsse zwischen gleichgeschlechtlichen Partnern werden in der Öffentlichkeit häufiger als Tabubruch wahrgenommen. Die Partner müssen mit Anfeindungen oder sogar mit gewalttätigen Übergriffen rechnen.

Tabus und Aufregung

Das Lippenbekenntnis sorgte jedoch auch immer für Aufregung. Als sich Im April 1896 die Schauspieler May Irwin und John Rice für den Stummfilm "Kiss" vor der Kamera von William Heise küssten, war die Welt entsetzt. Dabei war der Kuss eigentlich kein Kuss. Die beiden flirteten, kicherten geräuschlos, er drehte sich den Schnurrbart, und beugte sich zu ihr und tat nur so.

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Und dann waren da natürlich noch Kirk und Uhura. In der Star-Trek-Folge "Plato's Stepchildren" passierte es: Er küsste sie. Lange galt der am 22. November 1968 ausgestrahlte Kuss als der erste zwischen einem Weißen und einer Schwarzen im US-amerikanischen Fernsehen. Dabei schmuste Sammy Davis, Jr. Nancy Sinatra bereits ein Jahr zuvor in "Movin' with Nancy". 1968 wurden trotzdem Tabus gebrochen: Charlton Heston küsste als Astronaut George Taylor am "Planet der Affen" Kim Hunter, die als Psychologin Dr. Zira in einem Affenkostüm statt in einem Kleid steckte.

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Aber nicht nur die Farbe der Haut der Küssenden schockierte das Publikum. Harold und Maude, also Bud Cort und Ruth Gordon, sind zum Inbegriff eines romantischen Paares geworden. Maude ist aber nicht mehr die Jüngste, und Harold könnte ihr Sohn oder gar Enkel sein. 1971 küssten sie sich trotzdem.

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Und immer, wenn Buben Buben und Mädchen Mädchen küssten, war das natürlich auch eine Aufregung. Populär wurde das Gspusi zwischen Jake Gyllenhaal und Heath Ledger in "Brokeback Mountain" von 2005. Die küssenden Cowboys versetzten das konservative Amerika in Aufruhr. Von MTV gab es den Award für den besten Kuss. Geknutscht haben Jungs aber schon vorher. In "Sunday, Bloody Sunday" von 1971 haben Peter Finch und Murray Head mit ihrem leidenschaftlichen Kuss Kinogeschichte geschrieben. "Die Docks von New York" gilt als der erste Film, in dem sich zwei Frauen küssen: Betty Compson und Olga Baclanova taten es 1928.

Ein ausgiebiger Kuss zweier Frauen wurde Jahre später auch zum Thema. Bei den 20. MTV Video Music Awards in New York schmuste die Sängerin Madonna erst mit Britney Spears und dann mit deren Mickey-Mouse-Club-Rivalin Christina Aguilera – allerdings war letzterer Kuss eher ein Küsschen.

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Dabei könnte es völlig egal sein, wie geküsst wird: mit Zunge, Nase oder Lippen, zwischen Mann und Frau, Frau und Frau oder Mann und Mann. Am Ende geht es darum, sich nahe zu kommen. Außerdem macht Küssen glücklich – und ist nebenbei noch gesund. Höchste Zeit, sich die Zähne zu putzen. Dann steht dem Glücksgefühl nichts mehr im Wege. (Jakob Pallinger, Oona Kroisleitner, 6.7.2017)

Auf User-Wunsch noch ein Schmuser.
italiangoose