Die EU-Kommission sei über die Lage in der Türkei zwar sehr besorgt, die Union stehe aber weiterhin zu ihren finanziellen Verpflichtungen gegenüber dem Land, und die im Rahmen der Beitrittsverhandlungen vereinbarten Programme insbesondere zur Stärkung der Demokratie und des Rechtsstaates werden fortgesetzt. Das hat der für die Erweiterung zuständige Kommissar Johannes Hahn am Mittwoch bei einer Aussprache im Plenum des Europäischen Parlaments in Straßburg erklärt.

Die EU-Abgeordneten fordern seit längerem das Einfrieren dieser Verhandlungen, die seit zwölf Jahren laufen. Anlass der Debatte war der jüngste Türkei-Bericht des Parlaments. Die Abgeordneten werden am Donnerstag darüber abstimmen. Es scheint klar, dass eine Mehrheit das Suspendieren des Beitrittsprozesses verlangt. Gleichzeitig sollen aber die Kontakte zur Türkei nicht abgebrochen werden, stattdessen ein neuen Zollabkommen abgeschlossen werden. Es gehe darum, jenen Millionen Türken, die trotz des Ausnahmezustands und der vielen Verletzungen von Grundrechten, trotz der Verhaftungen von Oppositionellen und Journalisten weiterhin ihre Hoffnung auf eine Annäherung an Europa setzten, eine Perspektive zu bieten, wie die zuständige Berichterstatterin Kati Piri sagte.

Kommission beobachtet

Hahn sagte dazu, die Beziehungen zur Türkei könnten nur weiter bestehen, wenn das Land das Vertrauen wiederherstelle, "wenn es eine klare Verbesserung der internen Situation gibt". Die Kommission beobachte genau, was auf dem Gebiet der Rechtsstaatlichkeit, der Grundfreiheiten geschieht. Es sei besorgniserregend, dass einige im Hungerstreik in Gefängnissen vom Tod bedroht seien.

Piri appellierte an die Gemeinschaft, nicht wegzuschauen, sonst unterminiere sie ihre Glaubwürdigkeit. In der Debatte erachteten dies einige Abgeordnete als nicht ausreichend. So sprach sich der deutsche Liberale Alexander Graf Lambsdorff für die sofortige Beendigung der Beitrittsverhandlungen aus, weil das Land nicht Mitglied werden könne. Man brauche dazu "einen ehrlichen Dialog". Hahn hingegen verwies darauf, dass die Türkei etwa beim Migrationsabkommen ein verlässlicher Partner sei. Der Wanderungsdruck auf Europa habe deutlich nachgelassen, die Lage der syrischen Flüchtlinge habe sich verbessert, nicht zuletzt dank der Mittel, die die EU zum Beispiel für Schulen ausgegeben habe. Praktisch durch die Bank wurden von den EU-Abgeordneten die Massenverhaftungen in der Türkei, die Ausschaltung der Rechtsstaatlichkeit und die Gängelung der Justiz durch die regierende AKP von Präsident Recep Tayyip Erdoğan kritisiert.

Für die ÖVP sagte Othmar Karas, sollte die Todesstrafe wieder eingeführt werden, wäre eine rote Linie überschritten, die Beitrittsverhandlungen wären automatisch zu Ende. Offensiver gaben sich Eugen Freund und Josef Weidenholzer von der SPÖ: Sie befürworten den sofortigen Abbruch der Verhandlungen. Weidenholzer sieht in der Türkei das größte Gefängnis für Oppositionelle und Journalisten. Tatsächlich sind nicht einmal in China oder im Iran so viele Journalisten eingesperrt wie in der Türkei. Die Liberale Angelika Mlinar (Neos) forderte, statt eines Beitritts eine privilegierte Partnerschaft mit der Türkei anzustreben. Ein Parlamentsbeschluss auf Aussetzen der Verhandlungen hat formell keine Wirkung. Das müsste der Ministerrat entscheiden, eine Mehrheit ist aber nicht in Sicht. (Thomas Mayer aus Straßburg, 5.7.2017)