Bild nicht mehr verfügbar.

Kemal Kılıçdaroğlu, der Vorsitzende der größten türkischen Oppositionspartei, marschierte zu Fuß 430 Kilometer, um ein Signal für die Rückkehr zum Rechtsstaat zu setzen.

Foto: REUTERS/Osman Orsal

Der glücklose Parteichef steht nun im Blickpunkt.

Foto: AFP PHOTO / YASIN AKGUL

Bild nicht mehr verfügbar.

Fahnenmeer am Marmarameer: Hunderttausende demonstrieren in Istanbul.

Foto: REUTERS/Ziya Koseoglu

Istanbul/Athen – Den letzten Kilometer geht er allein, ein Meer aus roten und weißen Fahnen wartet auf Kemal Kılıçdaroğlu. Zum Istanbuler Stadtteil Maltepe, zur Uferpromenade am Marmarameer, wo der "Gerechtigkeitsmarsch" des türkischen Oppositionsführers zu Ende geht, strömen am Sonntagnachmittag Hunderttausende, möglicherweise eine Million Menschen.

ORF-Korrespondent Jörg Winter meldet sich aus Istanbul und berichtet von der Massendemo gegen Erdoğan.
ORF

Manche singen den Izmir-Marsch aus dem Unabhängigkeitskrieg, ein Lobpreis auf Mustafa Kemal Atatürk, den Gründer der Republik, und auf das Türkentum. Es dürfte die größte Versammlung von Regierungsgegnern außerhalb von Wahlzeiten in bald 15 Jahren Herrschaft Tayyip Erdoğans und dessen konservativ-islamischer Partei sein.

Überparteiliches Auftreten

Kılıçdaroğlu wollte kein Logo seiner Partei sehen, der Republikanischen Volkspartei CHP. Nur türkische Fahnen und weiße Banner mit dem Aufdruck "Adalet" – "Gerechtigkeit" – sollten erlaubt sein. Überparteilich wollte der Chef der sozialdemokratischen Kemalisten-Partei seinen Protestmarsch von Ankara nach Istanbul verstanden wissen. Vertreter der prokurdischen Minderheitenpartei HDP, deren Führung inhaftiert ist, schlossen sich am Ende dem Fußmarsch an; ebenso wie Politiker und Anhänger kleiner linker Parteien. Mehr als 80 Prozent der HDP-Wähler, aber auch 43 Prozent der Wähler der rechtsgerichteten, mittlerweile informell mit Erdoğans AKP verbundenen MHP unterstützten den "Gerechtigkeitsmarsch", will ein türkisches Meinungsforschungsinstitut herausgefunden haben.

Kılıçdaroğlu zeigte sich trotz der Strapazen kämpferisch. Dieser Marsch sei nicht zu Ende, rief er, "dies ist unser erster Schritt". Weil Parlament und freie Medien nicht mehr funktionierten, würde Gerechtigkeit selbstverständlich auf der Straße gesucht, kündigte der Parteichef an. Man werde dem Land wieder Demokratie bringen.

Parlamentarier verurteilt

430 Kilometer legte der 68-Jährige zurück. Am 15. Juni begann er im Güven-Park im Zentrum von Ankara mit seinen Anhängern diesen Protestmarsch. Am Tag zuvor war der CHP-Parlamentarier Enis Berberoğlu wegen Geheimnisverrats zu 25 Jahren Gefängnis verurteilt worden. Es war nach den "Säuberungen" im Staatsdienst und den Massenverhaftungen von Journalisten und anderen angeblichen "Terrorverdächtigen" der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, so erklärte Kılıçdaroğlu am Wochenende in einem Interview mit der linken Tageszeitung "Evrensel".

Allerdings trägt Kılıçdaroğlu selbst eine Mitverantwortung an der Inhaftierung seines Parteifeunds Berberoğlu, ebenso wie der Führung der HDP: Im Frühjahr 2016 ließ Kiliçdaroğlu einen Teil seiner Fraktion für eine Regierungsvorlage stimmen, mit der Abgeordnete im Parlament einmalig ihre Immunität verlieren, sollten Ermittlungen der Justiz anhängig sein. Die Episode gilt als enormer politischer Fehler eines weithin glücklos agierenden Parteichefs. Mit seinem "Gerechtigkeitsmarsch" gegen die offensichtliche Obstruktion der Justiz in der Türkei und das Regieren per Dekret seit der Verhängung des Ausnahmezustands vor einem Jahr gelang es Kılıçdaroğlu nun aber, dreieinhalb Wochen lang täglich die politische Agenda in der Türkei mitzubestimmen.

Ein Abbruch des Protestmarschs schien der Regierung nicht opportun. Der Empfehlung des Staatschefs, nicht über den Fußmarsch zu berichten, folgten die Medienbesitzer bald schon nicht mehr. Die türkischen Behörden sollen zudem vergangene Woche einen Terroranschlag des "Islamischen Staats" auf den Menschenzug verhindert haben.

"Demokratiewache" kommt

Bereits ab Dienstag mobilisiert die Regierung ihre Anhänger. Zum ersten Jahrestag des Putschversuchs vom 15. Juli sollen die Türken überall "Demokratiewache" halten. Das Presseamt der Regierung lud am Sonntag ausländische Journalisten zur Berichterstattung über die Gedenkveranstaltungen zum Jahrestag ein. Flug-, Hotelkosten und Verpflegung während der sechs Tage dauernden Feiern würden vom Presseamt übernommen, hieß es. In einem vergangene Woche veröffentlichten, ebenso offen wie kontrovers geführten Interview mit der deutschen Wochenzeitung "Die Zeit" erklärte Erdoğan, es gebe keine "unabhängigen Medien". (Markus Bernath, 9.7.2017)