Über die Stiege hinab in das Reich der kleinen weißen Bälle: In der Lange Gasse 69 wird nicht nur der Sport, sondern auch der Charme vergangener Tage zelebriert. Sehr zur Freude der Stammgäste.

Foto: Maria von Usslar

Betreiber Hans Bolena erhält Rückendeckung von der guten Seele des Hauses, Gerhard Urbanek.

Foto: Maria von Usslar

Wertvolle Raritäten in der Vitrine: die Schläger der einstigen Tischtennis-Weltmeister Trude Pritzi und Richard Bergmann.

Foto: Maria von Usslar

Die Geschichte der Halle im Schnelldurchlauf.

Foto: Maria von Usslar

Muss auch sein: Nach dem Sport das Getränk an der Theke.

Foto: Maria von Usslar

Es gibt viele gute Gründe, sich sportlich zu aktivieren. Einen Herzkasperl zum Beispiel. "Ich musste nach dem Infarkt etwas tun", sagt ein älterer Herr, der seinen Namen nicht nennen will und sich nach einer Partie Tischtennis ein Obi gespritzt gönnt. Den Schläger hätte er schon als Gschrapp im Souterrain der Lange Gasse 69 geschwungen. Nun, nach Jahren der Abwesenheit, feiert er mit einem ehemaligen Schulkollegen ein Comeback an alter Wirkungsstätte. Im Wochenrhythmus bringen die beiden Senioren im achten Wiener Gemeindebezirk ihren Kreislauf in Schwung: "Wir bekämpfen uns bis zur Erschöpfung. Es ist wie damals, hier hat sich kaum etwas verändert. Es hallt noch immer so schön." Der unzeitgemäße Charme der Räumlichkeiten erhöht dabei den Wohlfühlfaktor: "Was heißt da retro? Das ist doch nicht retro, das ist unsere Jugend."

Wer dem Spielspaß im Tischtenniscenter frönen will, muss an einer ausgetrockneten Topfpflanze vorbei, die Holztreppe hinab und über den Perserteppich hinüber zur Rezeption. Von einem Entrée zu sprechen, wäre Understatement, das Betreten der Lokalität gleicht einem Zeremoniell. Die Wiener Tischtennis-Weltmeisterin Trude Pritzi beschrieb das in ihrer Kindheit ehrfürchtig durchgeführte Ritual 1940 in der Kleinen Volks-Zeitung: "Schon immer wollte ich wissen, was sich in der großen Halle abspielt. Einmal überwand ich dann endlich meine Scheu und schlich klopfenden Herzens die vielen Stufen hinab." Kein Einzelschicksal in der Josefstadt. Aber man muss sich nur trauen. Hinter der Budel wartet ein Mann, der gemütlicher kaum sein könnte: Gerhard Urbanek, die gute Seele des Hauses, der Herr der Tische.

Keine strengen Regeln

Urbanek kommt direkt zu den entscheidenden Fragen. Nein, hier geht es nicht um Membership und Kündigungsoptionen. Hier dreht sich alles um Schläger, Bälle und den geeigneten Raum. Für elf Euro pro Stunde und Tisch ist man im Geschäft. Die einen spielen gern in der Auslage, die anderen bevorzugen eines der Separees. 13 Tische stehen auf 1000 Quadratmetern zur Verfügung, die Spezialwünsche korrelieren gemeinhin mit der Spielstärke der Besucher. "Vor zehn Jahren haben wir uns versteckt", sagt Sportskanone Harri auf Tisch Nummer zwei. Er ist Teil eines zehnköpfigen Zirkels: "Manche fallen weg, andere kommen hinzu, aus dem Sport haben sich Freundschaften entwickelt." Sechs Trainingsstunden pro Woche lassen sich nicht übersehen, Harri drischt auf den Ball ein und landet einen prächtigen Punktschlag. "Ich bin Angreifer", sagt er und lächelt zufrieden. Sein Gegner wischt derweil den Schweiß von der Tischplatte.

Einblicke in die älteste Tischtennishalle der Welt.
derStandard.at

Strenge Regeln gibt es anderswo. Harri betritt den Mikrokosmos in halbwegs professioneller Montur, Jeans und Straßenschuhe sind aber keineswegs verpönt. "Jeder wie er will", sagt Hans Bolena jr., der den Betrieb von seinen Eltern übernommen hat und den familiären Charakter des Kellers betont. "Geld lässt sich mit dem Center nicht verdienen, ich betreibe das als Hobby." Viele Spieler kämen seit Jahren, "sie schätzen den Chic vergangener Zeiten." Um Erhaltungsmaßnahmen kommt man trotzdem nicht umhin. Die Tische sind State of the Art, das Licht wurde modernisiert. Das macht die Menschen nicht unbedingt schöner, dafür treffen sie anstandslos die Bälle. "Dieses Haus hat eine lange Geschichte", sagt Bolena, "und es soll seinen einzigartigen Charme behalten. Ich will die Halle im Sinne meiner Eltern weiterführen."

Der Anachronismus soll also Bestand haben. Und dafür braucht es Widerstandskraft. Lage und Größe der Räumlichkeiten beflügeln die Fantasie von Investoren. Kein Zweifel, an dieser Stelle ließe sich Geld scheffeln, nicht nur Lebensmittelketten wittern eine Goldgrube. "Es gibt Interessenten", sagt Bolena, "aber ich will das nicht aufgeben, das ist die älteste Tischtennishalle der Welt."

Ob dem tatsächlich so ist, lässt sich kaum überprüfen, die Tradition der Sportstätte reicht jedenfalls weit zurück. In einer Vitrine lässt sich die Historie im Schnelldurchlauf nachlesen: Zwischen 1932 und 1948 wurde der Raum von einem Herrn Heizmann im Alleingang betrieben, dann stieg Trude Pritzi ein, und 1969 übernahm schließlich die Familie Bolena die Geschäfte. Seither wurde die Topfpflanze nicht mehr gegossen.

Ein Jubelschrei dringt von einem der hinteren Räume bis zur Rezeption durch. Der junge Daniel misst sich in einer abgelegenen Stube mit seiner Freundin. Die beiden nehmen nach der Arbeit regelmäßig den Pracker zur Hand, um sich zu entspannen. Dem Gerede vom Retroflair kann Daniel wenig abgewinnen: "Darauf achte ich nicht. Es geht um meinen Sport, und den kann ich hier unter erstklassigen Bedingungen betreiben." Die Wahl fiel bewusst auf den abgekapselten Tisch: "Da kann man seinen Emotionen freien Lauf lassen." Geflüsterter Nachsatz: "Bei mir ist spielerisch noch Luft nach oben." Ob Tischtennis gar hip sei? "Hip? Was ist hip? Hip ist, was vielen Leute Spaß macht. Oft ist die Halle ausgebucht. Also ja, Tischtennis ist hip."

Kein Boom in Sicht

Die nackten Zahlen sprechen freilich eine andere Sprache. Man kann nicht sagen, dass der Sport en vogue wäre. Kein Trend, kein Boom, kein Hype in Sicht. Als der Österreicher Werner Schlager 2003 in Paris Weltmeister wurde – übrigens der einzige nicht aus China stammende Champion seit der Jahrtausendwende –, gab es kurzzeitig einen kleinen Aufschwung. Der Profisport ist im Center aber ohnehin nicht die treibende Kraft. "Wir sind ein sozialer Treffpunkt, es geht um ein gemütliches Beisammensein. Man kommt in Bewegung, muss sich aber nicht verausgaben", sagt Bolena. "Und nach dem Sport geht man im achten Bezirk in eine Gastwirtschaft." So lassen sich die verlorenen Kalorien kompensieren.

Ping, pong, ping, pong. Das rhythmische Geräusch kommt hier unten aus allen Ecken. Ping, pong, ping, pong. Oder ist es doch klick, klack, klick, klack? Die Ohren können sich nicht entscheiden. Umgangssprachlich wird das Spiel jedenfalls nach wie vor Pingpong genannt. Wenngleich jenseits des Hobbysports der Begriff Tischtennis vorgezogen wird. Und wie wird es in der Lange Gasse gehandhabt? Der ältere Herr: "Ich spiele Tischtennis, nicht Pingpong." Sportskanone Harri: "Pingpong? Das spielt man nur im Bad." Hans Bolena stützt sich an der Theke ab und gibt sich weniger streng: "Sie dürfen auch Pingpong sagen." (Philip Bauer, 15.7.2017)