"Ich lade meine Leser ein, auf Dinge hinzuhören. Das Erste, das man bemerkt, wenn man in eine neue Kultur kommt, ist die Musik der Körper der Menschen. Der Körper ist ein Resonanzinstrument."

Foto: Trinh Minh-ha

Trinh T. Minh-ha, "Elsewhere, within here. Immigration, Flucht und das Grenzereignis", hrsg. v. Matthias Schmidt, Anna Babka, € 29,00 / 250 Seiten, Turia + Kant, Wien 2017

Foto: Turia + Kant

Trinh T. Minh-has poetisch-politische Schriften und Filme beschäftigen sich mit Grenzereignissen aller Art und loten gleichzeitig die Grenzen von wissenschaftlichem Arbeiten und künstlerischem Nachdenken aus. Elsewhere, Within Here, ein Essayband über Identität, Sprache und Ursprung in Zeiten von Immigration und Flucht, ist soeben in deutscher Übersetzung erschienen.

STANDARD: Sie sind Künstlerin, Filmemacherin und Theoretikerin, wobei keine Ihrer Arbeiten gänzlich in eine dieser Spalten passt. Wie arbeiten Sie?

Minh-ha: Ich war sehr interessiert an Poesie, aber gleichzeitig auch an Philosophie und kritischer Theorie. Ich habe Komposition und Musikethnologie studiert und früher auch gemalt. Im Film war es mir möglich, das Verbale, das Visuelle und das Musikalische zusammenzubringen. Allerdings schreibe ich auch von der Musik ausgehend, und viele Menschen erkennen das. Ich lade meine Leser ein, auf Dinge hinzuhören. Das Erste, das man bemerkt, wenn man in eine neue Kultur kommt, ist die Musik der Körper der Menschen. Der Körper ist ein Resonanzinstrument.

STANDARD: Weil sie nur schwer zu kategorisieren ist, wird Ihre Arbeitsweise oft als "experimentell" bezeichnet, aber Sie sind nicht ganz einverstanden mit diesem Label.

Minh-ha: Wenn man verschiedene Begehren hat, die man ausdrücken möchte, aber keine Vorurteile, was zuerst kommen soll, ist es wie ein Würfelwurf. Man würfelt einige Dinge, und auf einmal taucht etwas auf und wird zur Substanz des Textes. Wenn man das als experimentell bezeichnet, akzeptieren es die Leute. Wenn man sich nicht auf diese Bezeichnung beruft, aber tatsächlich experimentiert, ist das untragbar. Menschen brauchen Kategorien, um in ein Werk hineinzukommen, während das Werk sie aber dazu auffordert, ohne Wissen an es heranzugehen.

STANDARD: Damit geht Ihr Werk weit über das hinaus, was unter Interdisziplinarität verstanden wird. Wie ist Ihnen dieses Konzept in den unterschiedlichen universitären und nichtakademischen Kontexten Ihres Schaffens begegnet?

Minh-ha: Die meiste Zeit meint Interdisziplinarität, dass man eine Disziplin neben die andere stellt: Menschen kommen zusammen, aber sprechen allein aus ihrer Expertise. Das ist ein sehr sicherer Raum, weil man immer ausgehend von einem Ort des Wissens spricht. Für mich müsste Interdisziplinarität hingegen auf das "Inter" fokussieren, diesen Raum dazwischen, den man nicht benannt hat. Das ist eine wahre Herausforderung.

STANDARD: Wie schlägt sich dies in Ihren Essays in "Elsewhere, Within Here" nieder?

Minh-ha: Ich spreche darin an, dass auf der ganzen Welt von virtueller Grenzenlosigkeit gesprochen wird; dass die virtuelle Realität uns erlaubt, jede Grenze zu überwinden. Dabei geschieht im Politischen gerade das Gegenteil: Es geht um das Aufziehen von Zäunen und das Bauen von Mauern. Ich habe dieses Buch vor längerer Zeit geschrieben, aber es trifft genau darauf zu, was jetzt in den USA passiert, mit all den "bans" und noch mehr Mauern und mehr Verteidigung. Grenzen sind leider ein extrem wichtiges Thema geworden.

STANDARD: Manche dieser Essays sind zwanzig Jahre alt und sind dennoch – man möchte sagen, leider – sehr aktuell in dieser Hinsicht. Stimmt Sie das pessimistisch?

Minh-ha: Nein. Wir sind es gewöhnt, Fortschritt sehr linear zu denken, aber was ich vor zwanzig Jahren beschrieben habe, ist heute so präsent, weil nun die Immigration im Westen passiert. In anderen Teilen der Welt war das bereits sehr heftig, aber wegen der ungleichen Machtverteilung, hörte man darüber wenig. Wenn es in den Westen kommt, wird es überwältigend.

STANDARD: Sie behandeln Themen wie Re- und Deterritorialisierung durch Sprache, die Mystifikation der Frau und "des Anderen" und welche Strategien man hiergegen entwickeln kann. Auch geht es um das gezielte Einsetzen oder das vehemente Ablehnen von Labels. Das grundlegende Prinzip scheint mir zu sein, dass Sie dazu ermutigen, aktiv traditionelle Weisen des Wissens und der Kategorisierung zu hinterfragen.

Minh-ha: Das ist sehr zutreffend. Egal ob man einen Film macht oder ein Buch schreibt, Machtverhältnisse sind etwas, mit dem man sich sehr eng auseinandersetzen muss. Es ist nicht genug, mit einem Finger auf eine Situation zu zeigen und diese zu verurteilen. Diese Verurteilung muss einen selbst beinhalten und auf einen selbst zurückzeigen. Wissen wird dann extrem fragwürdig, wenn es zur Grenze wird, innerhalb derer man sicher operieren und Kontrolle und Macht über andere Menschen ausüben kann. Das ist die Art von Machtverhältnis, die ich ständig hinterfrage. Der einzige fruchtbare Weg, um andere Kulturen zu untersuchen, ist, sich selbst zu situieren. Somit nimmt man dem Anderen keinen Platz weg; man spricht nicht für sie oder ihn. In meinen Filmen verfolge ich die Herangehensweise des Sprechens nahe am ("nearby"), anstatt für, im Namen von oder gegen den Anderen zu sprechen. Das ändert die Sprechweise, denn man bedenkt mit, dass der Andere jederzeit zurücksprechen kann, auch wenn sie oder er gar nicht da ist.

STANDARD: Sie sagten einmal, "es gibt keine Dokumentarfilme", in dem Sinn, dass alles durch fiktionale Instrumente ("fictional devices") hindurchgeht. Kategorien wie Wahrheit und Objektivität sind heute, zumindest in den Geisteswissenschaften, längst fragwürdig geworden ...

Minh-ha: Ich finde nicht, dass Objektivität genug hinterfragt wird, weil sie immer im Gegensatz zu Subjektivität verstanden wird. Um zu schreiben und zu forschen, müssen wir auf Sprache zurückgreifen – auch in einem wissenschaftlichen Rahmen – und Sprache ist natürlich fiktional. Das festzustellen heißt aber nicht, dass alles fiktional ist. Man benutzt ein fiktionales Instrument, etwa ein Bild, um eine Tatsache zu kommunizieren oder etwas zu beweisen.

STANDARD: Dies verkompliziert sich doch auch noch mit der Alternative-Facts- und Fake-News-Debatte, angesichts derer eine gewisse neue Sehnsucht nach objektiver Wahrheit entsteht. Wie kann man vor diesem Hintergrund kritische Kulturwissenschaft machen?

Minh-ha: Es ist unglaublich, wie der Term "alternativ" vereinnahmt wurde. Hier haben wir die extreme Rechte, die den Diskurs von Menschen am Rand der Gesellschaft vereinnahmt und so tut, als sei sie selbst marginalisiert. Ich habe diesen Begriff immer abgelehnt, etwa wenn es um "alternative cinema" ging, denn wenn wir über Alternativen sprechen, dann akzeptieren wir eine binäre Denkweise, die ein Zentrum anerkennt. Wenn wir bereits in diesem Sinn den Term ablehnen, dann können wir vielleicht auch diese Vereinnahmung durch die extreme Rechte abschneiden. Denn man weiß sehr genau, dass diese Leute den dominanten Diskurs des Mainstream sprechen. Es ist der Diskurs des Weißen Hauses. (Julia Grillmayr, 15.7.2017)