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Zur von Sebastian Kurz befürchteten "Zuwanderung in den Sozialstaat" meint Sozialexperte Walter Pfeil: "Das Problem ist nicht so heiß, wie es offenbar wahlkampfbedingt hochgekocht wird."

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Sebastian Kurz von hinten. 2014 meinte er noch: "Wir haben zu wenig Willkommenskultur"

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Es ist ein Patentrezept des Sebastian Kurz. Erklärt der VP-Chef, wie er die zig Milliarden für die von ihm versprochene Steuersenkung auftreiben will, fällt immer auch der Satz: "Wir müssen die Zuwanderung ins Sozialsystem stoppen."

Wen er wie woran hindern will, deutet Kurz meist nur an. Gerne erwähnt er, dass in Wien jeder zweite Bezieher der Mindestsicherung Ausländer ist, immer wieder warnt er: EU-Bürger sollten sich über die Staatsgrenzen hinweg einen Job aussuchen dürfen, nicht aber das Sozialsystem. Konkretes verspricht Kurz für September. Dann will er ein detailliertes Wahlprogramm vorlegen.

So lange will nicht jeder warten. DER STANDARD hat deshalb vorausrecherchiert: Stehen die Tore zum Wohlfahrtsstaat für Ausländer sperrangelweit offen?

Asylberechtigte

Tatsächlich sind in den vergangenen Jahren tausende Menschen nach Österreich gekommen, die finanziell nicht auf eigenen Beinen stehen: Asylberechtigte haben Anspruch auf die Mindestsicherung, wenn auch in einigen Ländern nur in einer abgespeckten Variante, die weniger als die übliche Basisleistung von je nach Land 845 bis 921 Euro im Monat bietet. Subsidiär Schutzberechtigte – kein Asyl, aber Abschiebeverbot – sind mancherorts schon seit längerem schlechtergestellt.

Nicht alle sind auf Sozialhilfe angewiesen. Die Zahl der Beschäftigten aus Syrien etwa hat sich seit dem Mai des Vorjahres auf über 3400 Menschen verdoppelt. Doch für die Mehrheit reichen Deutsch und Qualifikation (noch) nicht, um Arbeit zu ergattern. Johannes Kopf, Chef des Arbeitsmarktservice, schließt aus internationalen Erfahrungen, dass nach fünf Jahren im Idealfall die Hälfte untergebracht werden könnte. Zwischenstand: Ende April hatten 18,4 Prozent aller Flüchtlinge, die von Anfang 2015 bis Mitte 2016 beim AMS landeten, einen Job.

Der Rest belastet das soziale Netz. In Wien etwa geht der vorjährige Sprung von rund 181.000 auf knapp 195.000 Mindestsicherungsbezieher ausschließlich auf das Konto von Geflüchteten. Was diesen Menschen hingegen nicht angelastet werden kann: dass sie zu jenen zählten, die – wie Kurz sagte – "nicht auf der Suche nach Schutz, sondern nach einem besseren Leben" nach Mitteleuropa kamen. Schließlich haben anerkannte Flüchtlinge ihre Schutzbedürftigkeit von der Behörde offiziell bestätigt bekommen.

Osteuropäer

Aus freien Stücken zugewandert sind hingegen zehntausende Osteuropäer. Die hierzulande ansässige Bevölkerung aus den neuen EU-Staaten hat sich seit 2008 mehr als verdoppelt, die Beschäftigtenzahl schoss empor – in manchen Gruppen aber auch die Arbeitslosigkeit. Während die Quote etwa bei den Bürgern aus Ungarn niedriger ist als bei den Österreichern, zeigt sich bei Rumänen und Bulgaren ein massiver Anstieg. Nutzen da viele die EU-Freizügigkeit, um harte Bedingungen in der Heimat gegen den Polster des österreichischen Sozialstaats zu tauschen?

Der Playboy darf prassen

Kommen und Kassieren spielt es trotz EU nicht so leicht, wie landläufig oft geglaubt wird. Um Sozialtourismus zu verhindern, sagt der Europarechtler Franz Leidenmühler von der Uni Linz, sind gewisse Schranken eingezogen. Wer innerhalb der EU in ein anderes Land zieht, muss sich selbst erhalten können, um der Allgemeinheit nicht zur Last zu fallen. Der Playboy, der Vermögen verprasst, kann unbehelligt bleiben, so der Experte – alle anderen kommen um Arbeit nicht umhin. Sonst droht sogar die Ausweisung.

Arbeit ist auch Voraussetzung, um Mindestsicherung, Arbeitslosengeld und Notstandshilfe zu beziehen. Allerdings, erläutert Leidenmühler, habe das System manche Schwäche, die "ein gewisses Missbrauchspotenzial" eröffnet.

Wer Arbeitslosengeld beziehen will, muss prinzipiell in den vergangenen Jahren 52 Wochen gearbeitet haben. Allerdings ist egal, wo in der EU: Nimmt ein Rumäne genügend Versicherungszeiten von zu Hause mit, reicht ein Tag reguläre, nicht geringfügige Beschäftigung in Österreich, um die heimische "Arbeitslose" und im Anschluss die Notstandshilfe zu erhalten – ohne hierzulande nennenswert eingezahlt zu haben.

Einfallstor oder Mäuseloch

Diese Regel stamme aus einer Zeit, als Wohlstandsgefälle und Wanderungen wegen Arbeitssuche innerhalb der EU viel geringer waren, sagt Wolfgang Mazal, ein Arbeitsrechtsexperte, auf dessen Wort Kurz viel gibt: "Heute kann man schon hinterfragen, ob diese Möglichkeit nicht eingeschränkt werden sollte." Wie viele Menschen diese tatsächlich beanspruchten, wisse er nicht, sagt Mazal: "Ich bin kein Zahlenmensch, sondern analysiere Systeme. Wird diese Regel von EU-Bürgern strategisch genützt, dann kann daraus ein großes Einfallstor werden."

Aktuelle Daten weisen allerdings eher auf ein Mäuseloch hin. Ende April zählte das AMS ganze 127 EU-Ausländer, die weniger als sieben Tage in Österreich gearbeitet haben, dank ausländischer Versicherungszeiten aber dennoch Arbeitslosengeld oder Notstandshilfe bezogen.

Massen kommen auch dann keine zustande, wenn man den Kreis etwas weiter zieht. Eine Auswertung von 2015 identifizierte rund 500 EU-Ausländer, die hierzulande weniger als drei Monate gearbeitet haben und Leistungen erhielten. Schließt man alle ein, die Ansprüche lediglich dank zusätzlicher ausländischer Versicherungszeiten erwerben konnten, kommen noch einmal 1700 dazu. Aber selbst dann geht es nur um 0,6 Prozent der Arbeitslosen.

Will Kurz die Mitnahmeregel, die er schon einmal thematisiert hat, dennoch ändern, braucht er Verbündete in der EU. Ohne eine Änderung des Unionsrechts gehe da gar nichts, sagt Walter Pfeil, Sozialrechtsexperte von der Uni Salzburg: "Jeder Staat, der hier einen Alleingang versucht, verliert zu 100 Prozent vor dem Europäischen Gerichtshof."

Das gilt nach gängiger Rechtsmeinung auch für eine andere Idee, die Kurz ventiliert hat: EU-Ausländer sollten Sozialhilfe – also die Mindestsicherung – erst dann erhalten, wenn sie zumindest fünf Jahre im Land sind.

Abkürzungen zur Sozialhilfe

Wie ist es derzeit? Eine Fünfjahresfrist existiert bereits: Erst nach dieser Aufenthaltsdauer gibt es in jedem Fall uneingeschränktes Recht auf Mindestsicherung. Jedoch bieten sich Wege, die Leistung trotzdem rasch zu beziehen.

Erste Möglichkeit: EU-Bürger müssen in Österreich nur kurz – in Wien etwa reicht ein Monat – arbeiten, um bei Jobverlust für sechs Monate Mindestsicherung zu erhalten. Wie viele Kurzzeitbeschäftigte tatsächlich unter den Sozialhilfeempfängern sind, verraten verfügbare Daten aber nicht.

Ablesbar sind allgemeine Dimensionen. In Wien ist der Anteil der Mindestgesicherten unter den EU-Ausländern mit acht Prozent kaum höher als unter den Österreichern (7,7 Prozent), das gleiche gilt auf niedrigerem Niveau für die anderen großen Bundesländer Niederösterreich, Oberösterreich und Steiermark. In keinem dieser Länder stellen EU-Bürger mehr als ein Zehntel der Bezieher.

Drohende Leistungskürzung

Zweite Variante: Arbeitet ein EU-Bürger nur geringfügig, kann er das kärgliche Einkommen vom ersten Tag an mit der Mindestsicherung aufstocken; dafür reichen 5,5 Wochenstunden. Allerdings gilt die Pflicht, sich einen besser dotierten Job zu suchen – sonst droht Leistungskürzung.

Wie viele Zuwanderer direkt in dieser Situation landen, ist unbekannt. Für Wien lässt sich so viel sagen: 85 Prozent der aktuell gut 18.000 EU-Bürger in der Mindestsicherung sind "Aufstocker". Laut einer Studie des Wirtschaftsforschungsinstituts (Wifo) auf Basis etwas älterer Zahlen bessern aber weniger als 15 Prozent ein Erwerbseinkommen auf, die Mehrheit ergänzt staatliche Leistungen wie Arbeitslosengeld oder Notstandshilfe – und dafür müssen, wie oben erwähnt, vorher Versicherungszeiten erworben werden.

Selbständige

Ausgeschlossen ist laut Auskunft aus dem Rathaus, dass sich viele Zuwanderer als Selbstständige deklarieren, um dann mangels nennenswerten Profits von der Mindestsicherung zu leben. Laut der Wiener Daten bekamen im Vorjahr gerade einmal 251 Selbstständige Mindestsicherung.

Eines dürfe bei der Debatte nicht vergessen werden, sagt Wifo-Experte Helmut Mahringer: EU-Bürger sind wie alle Arbeitslosen verpflichtet, zumutbare Jobs anzunehmen, wollen sie keine Sperre der Leistungen riskieren. Die hohe Arbeitslosigkeit bei Rumänen und Bulgaren erklärt er mit einem anderen Phänomen als sozialen Verlockungen: EU-Bürger aus dem Osten arbeiteten häufig in unbeständigen Saisonjobs; wer weiter weg wohne, sei seltener Pendler und schlage sich deshalb in der heimischen Statistik nieder.

Weniger heiß als gekocht

Schon gar keinen Beleg für die These von der Zuwanderung ins Sozialsystem sieht Mahringer in der hohen Arbeitslosigkeit einer anderen Gruppe: Bei Immigranten aus der Türkei und Ex-Jugoslawien – weder Flüchtlinge noch EU-Bürger – stieg die Quote seit 2008 besonders rasant an. Doch dabei, so der Experte, handle es sich in der Regel um alteingesessene Arbeitskräfte, die oft von besser Qualifizierten aus neuen EU-Ländern verdrängt würden.

Für Zuwanderer abseits der EU seien die Chancen auf den Direktsprung in die vermeintliche soziale Hängematte "gleich null", sagt Johannes Peyrl, Fremdenrechtsexperte der Arbeiterkammer und verweist auf die strengen Zugangsregeln. Selbst für Familienzusammenführung seien ausreichende Unterhaltsmittel Voraussetzung, eine vierköpfige Familie müsse ein Einkommen von etwa 1800 Euro netto im Monat nachweisen. Mindestsicherung gibt es erst nach fünf Jahren Aufenthalt.

Wahlkampfbedingtes Hochkochen

"Außer mit hartem Betrug ist da nicht viel zu holen", meint der Salzburger Professor Pfeil, dem sich zu der von Kurz angezettelten Debatte auch ein generelles Urteil aufdrängt: "Das Problem ist nicht so heiß, wie es offenbar wahlkampfbedingt hochgekocht wird."

Doch vielleicht existieren ja Hintertüren, die Experten übersehen. DER STANDARD hat im Büro Kurz deshalb mehrfach um Hinweise, Anhaltspunkte, Berechnungen gebeten. Ohne Erfolg. (Gerald John, 16.7.2017)