Vielschichtig, sinnlich und ironisch, wobei die kritischen Spitzen deutlich spürbar bleiben: B I L D U N T E R S C H R I F T: In Michael Laubs "Fassbinder, Faust and the Animists" brilliert eine 17-köpfige Tanzcrew.

Roger Rossell

Wien – Er hat an alles gedacht. Zunächst einmal an Rainer Werner Fassbinder und dessen Antitheater-Gruppe, an Herrn von Goethes "Heinrich! Mir graut's vor dir" und an den Himmel über dem postkommunistischen Kambodscha. Mit Fassbinder, Faust and the Animists stellt der belgische Choreograf Michael Laub jetzt sein jüngstes Stück kurz nach dessen Berliner Uraufführung auch dem Wiener Publikum vor – bei Impulstanz im Akademietheater.

Laub hat Fassbinders Film Warnung vor einer heiligen Hure aus dem Jahr 1971 filetiert, lässt einige der wichtigsten Passagen live nachspielen, schneidet Mephisto und Gretchen aus dem Fleisch des Goethe'schen Faust dazwischen und fügt rhythmisch Tanzpassagen in diese Dekonstruktion ein. Was dabei herauskommt, ist eine bis ins letzte Detail gelungene Arbeit, deren Brisanz sich erst auf den zweiten Blick erschließt.

Warnung vor einer heiligen Hure ist ein kritisches Zeitbild der 68er-Bewegung, die es mit ihrer Opposition gegen die Bürgerlichkeit ihrer Elterngeneration alles andere als leicht hatte. Der Widerstand erzeugte große Gefühle und glitt auf reichlich ideologischem Drang daher. Indes eroberten die kommunistischen Roten Khmer 1975 die kambodschanische Hauptstadt Phnom Penh und errichteten ein Schreckensregime, dessen Ausrottungspolitik die Kultur des Landes nahezu vollständig vernichtete.

Drama um die Erzeugung eines Dramas

Mit dem sich langsam regenerierenden Kambodscha hat sich Michael Laub bereits früher beschäftigt, und seine Entscheidung, Fassbinder und Faust zu verknüpfen, hat einen triftigen Grund. Als der junge Goethe den Stoff für die "Gretchentragödie" bereits hatte, war er eine Zeit lang Teil der oppositionellen Jugendbewegung des Sturm und Drang. Auch hier war der Widerstand mit ähnlichen Gefühlsausbrüchen und inneren Leiden durchsetzt, die Fassbinders Warnung zu einer Tortur machen. Der Regisseur versuchte, die chaotischen Produktionsbedingungen beim Dreh von Whity zuvor in demselben Jahr aufzuarbeiten.

Nach diesem Drama um die Erzeugung eines Dramas fiel Fassbinders Antitheater-Gruppe zwar auseinander, doch dem Workaholic war es gelungen, den wahlweise autoritären, rüpelhaften oder weinerlichen "Künstlerberserker" der dauerbekifften deutschen Siebzigerjahre zu zerlegen. In Anspielung darauf hat Michael Laub in sein Stück eine Spielart des Madisontanzes eingefügt, die von der kambodschanischen Jugend weiterentwickelt worden ist und eine Popkultur außerhalb der üblichen Trendmaschine darstellt: Die Herrschaft von Pol Pots ideologischen Eiferern wird mit Coolness überspielt.

Das Medium ist die Message

Der Mehrschichtigkeit ihres Inhalts entspricht die Form von Fassbinder, Faust and the Animists. Auch in der Kunst ist das Medium die Message, daher projiziert Laub hinter seine 17-köpfige, brillant spielende und tanzende Livetanzcrew etliche Ausschnitte aus Fassbinders Film, Aufnahmen von nachgespielten – und dabei modifizierten – Szenen und Mitschnitten aus der Audition für die Rollenbesetzungen im Stück. Fassbinders Filmmusik von unter anderem Leonard Cohen, Elvis Presley und Ray Charles wird zum Teil ausgekoppelt verwendet und mit Madisonmusik von Ray Byant, dem Cambodian Space Project, Puo Khlaing und der Band Mute Speaker kombiniert.

In dieser Atmosphäre nimmt Gretchen späte Rache an Fausts und Fassbinders Umgang mit ihren Frauenfiguren. In Persiflage auf Hanna Schygullas venushaften Tanz gegen Ende der Warnung vor einer heiligen Hure tritt sie – verkörpert von Astrid Endruweit – bei Michael Laub ins Scheinwerferlicht und spielt japanische Schulmädchenpornofantasien vor. Ähnlich charakteristisch ist eine Szene, in der eine Gruppe von Tänzern auf Yogamatten zum Ohrenschmalz von Cohens So Long, Marianne aus den Fugen gerät – eine Anspielung auf Schygullas grimassierende Verarschung eines ihrer Kollegen.

In ihrer Verdoppelung im Hintergrundvideo fährt die Gruppe zum Vergnügen des Publikums als Projektion auf in den Himmel, wo Gretchen wohnt. So vielschichtig, sinnlich und ironisch Fassbinder, Faust and the Animists auch auftritt, seine kritische Spitze sticht spürbar. (Helmut Ploebst, 17.7.2017)