Im März präsentierte das Institut für Rechts- und Kriminalsoziologie eine Studie über behinderte Kinder und Jugendliche in der Wiener Psychiatrie und arbeitete erstmals ausführlich historisch und sozialwissenschaftlich die Gewalt und den Missbrauch in Einrichtungen der österreichischen Behindertenhilfe auf. Untersucht wurden einerseits Pavillon 15 des Psychiatrischen Krankenhauses auf der Baumgartner Höhe, andererseits die Abteilung für entwicklungsgestörte Kinder unter der Leitung von Andreas Rett, die ab 1975 am Neurologischen Krankenhaus Rosenhügel untergebracht war. Unter anderem berichtete DER STANDARD über die Studie, doch eine ausführliche Diskussion über die Ergebnisse blieb bislang völlig aus. Dafür müsste vor allem eine Auseinandersetzung darüber stattfinden, welche Konsequenzen das nun öffentlich vorliegende Wissen über den menschenverachtenden Umgang mit behinderten Kindern im Österreich der Nachkriegszeit bis heute hat.

Kontinuitäten bis heute

Pavillon 15 war in der Zeit des Nationalsozialismus Teil der Tötungsanstalt "Am Spiegelgrund" und zentraler Ort der Euthanasie von behinderten Kindern. Auch danach blieb er eine Endstation – mit vielen Kontinuitäten: Sei es, dass die Kinder häufig auf Empfehlung von Ärztinnen und Ärzten aus ihren Herkunftsfamilien und ihrem sozialen Umfeld radikal und endgültig segregiert wurden; sei es die Unterteilung in "gute", also bildungsfähige beziehungsweise förderwürdige und "schlechte", also bildungsunfähige und nicht förderungswürdige Kinder; oder sei es die nach Kriegsende bis 1977 fortgesetzte Praxis, Gehirne verstorbener Kinder für wissenschaftliche Zwecke zu verwenden.

Mechanismen von Differenzierung, Abgrenzung und Aussonderung dominieren die Kultur des Umgangs mit behinderten Kindern und Erwachsenen in Österreich bis heute. Um Integration oder gar Inklusion muss immer noch gekämpft werden – die endlose Debatte über den Erhalt der Sonderschulen ist dafür ein illustres Beispiel. Erst 2006 wurde der Begriff der "Schulunfähigkeit" aus dem österreichischen Schulpflichtgesetzt gestrichen. Durch diese Zuschreibung wurde Kindern der Besuch einer Schule aufgrund der Schwere ihrer Behinderung untersagt.

Ewige Kinder

Die Praxis des Einteilens in "brauchbar" und "unbrauchbar" setzt sich besonders schwerwiegend im Allgemeinen Sozialversicherungsgesetz fort: Dieses unterscheidet erwerbsfähige von dauerhaft nicht-erwerbsfähigen behinderten Menschen und von dieser Beurteilung hängt der Zugang zu Unterstützungsmaßnahmen für den Weg auf den allgemeinen Arbeitsmarkt ab. Für als nicht-erwerbsfähig eingestufte Frauen und Männer mit Behinderungen verlängert sich zudem die Kindseigenschaft, juristisch sind sie also ewige Kinder. Politische oder gar öffentliche Debatten darüber fehlen in Österreich gänzlich.

Der Pavillon 15 im Otto-Wagner-Spital in Wien.
Foto: derStandard/Heribert Corn

Nicht auf Wien beschränkt

Vergleichbare Missstände im Umgang mit behinderten Buben und Mädchen geschahen auch in anderen Bundesländern – sowohl in psychiatrischen Krankenhäusern als auch in Einrichtungen der Behindertenhilfe. Insofern kann die Studie über die Wiener Psychiatrie für Österreich nur einen ersten Schritt darstellen. Aus dem Jahr 1980 existiert beispielsweise ein Bericht über eine Anstalt im steirischen Kainbach, in der 600 behinderte Kinder und Erwachsene untergebracht waren. Die Schilderungen über die Zustände und die Bilder sind über weite Strecken ident mit jenen des Pavillon 15. Die Kainbacher Verhältnisse lösten damals internationales Medieninteresse aus, das aber lediglich zu Reformen innerhalb der Einrichtung führte. Entgegen aller damals bereits breit diskutierten, internationalen Entwicklungen zur Integration und Gleichstellung behinderter Menschen, wurde in der Steiermark die Berechtigung einer großen Sondereinrichtung nur für behinderte Menschen nie in Frage gestellt. Sie existiert bis heute.

Aufnahme aus einem steirischen Behindertenheim im Jahr 1980.
Foto: Peter Nausner

Aussonderung statt Integration

Dass das historische Erbe bis heute schwer auf der österreichischen Behindertenhilfe lastet, zeigen nicht zuletzt die jährlichen Berichte der Volksanwaltschaft. Sie besucht und kontrolliert seit 2012 im Sinne der Prävention von Menschenrechtsverletzungen auch Einrichtungen für behinderte Menschen in ganz Österreich. Konsequent kritisiert die Volksanwaltschaft, dass es hier immer wieder zu Aussonderung und struktureller Gewalt kommt, dass behinderten Menschen Selbstbestimmung und Entwicklungsmöglichkeiten vorenthalten werden –bei Kindern ebenso wie bei Erwachsenen. Die Volksanwaltschaft weist ebenso beharrlich auf das Fehlen einer bundesweiten Strategie für De-Institutionalisierung und das mangelnde Angebot an bedarfsgerechten, mobilen Unterstützungsdiensten für Familien mit behinderten Kindern beziehungsweise für erwachsene Frauen und Männer mit Behinderungen hin.

Aussonderung ist bei weitem stärker verankert als Integration, in den Köpfen ebenso wie in den Strukturen. Die verdrängte Aufarbeitung des Umgangs mit behinderten Menschen im Nationalsozialismus und dessen Auswirkungen bis heute muss endlich umfassend angegangen werden. (Petra Flieger, 24.7.2017)

Literaturtipp

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