Seit 11. Juni gilt für ukrainische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger die visafreie Einreise in die EU – somit bieten sich Geschäftschancen für internationale Unternehmen. Dementsprechend verkündete die irische Luftlinie Ryanair im Frühjahr 2017 ihren Markteinstieg in der Ukraine. Flüge aus mehreren europäischen Städten von und nach Kiew und Lwiw sollten angeboten, der Flugplan in der Folge ausgebaut werden. Der Vorverkauf von Tickets hatte bereits begonnen.

Dann kam der Rückzug. Der Ticketverkauf wurde gestoppt. David O’Brien, Chief Commercial Officer bei Ryanair, begründete die Entscheidung damit, dass keine Übereinkunft mit dem Management des Flughafens Boryspil in Kiew getroffen werden konnte. Gleichzeitig äußerte O‘Brien den Vorwurf, Pavlo Riabikin, CEO des Flughafens Boryspil, wolle damit die ukrainische Fluglinie Ukraine International Airlines (UIA) vor internationaler Konkurrenz schützen. Rückendeckung bekommt O’Brien vom ukrainischen Transportminister Volodymyr Omelyan, der bereits im Juni 2017 mitteilte, dass Riabikin die Monopolstellung der UIA für Flüge nach Europa nicht gefährden wolle. Pikant ist, dass einer der einflussreichsten Oligarchen der Ukraine, Igor Kolomoisky, Miteigentümer der UIA ist. In der Ukraine aktive Billigfluglinien fliegen hauptsächlich Ziele im Nahen Osten an, Europa wird derzeit nicht bedient. Sowohl Riabikin als auch die UIA kontern die Anschuldigungen der Wettbewerbsverzerrung und argumentieren mit unverhältnismäßigen Forderungen seitens Ryanair, wodurch dem Flughafen Boryspil ein finanzieller Verlust entstünde.

Die Ukraine feiert die Visa-Freiheit am Flughafen Boryspil.
Foto: APA/AFP/SERGEI SUPINSKY

Der ukrainische Premierminister Volodymyr Groysman wiederum forciert die Wiederaufnahme der Verhandlungen mit Ryanair und der Transportminister droht mit der Absetzung von Riabikin, sollte keine Einigung zwischen dem Flughafen Boryspil und Ryanair erzielt werden.

Der Zwist mit Ryanair ist kein Einzelfall

Die Posse um den irischen Billigflieger mag auf den ersten Blick nach einem Einzelfall aussehen, bei dem ein privates, internationales Unternehmen an den Besonderheiten des ukrainischen Marktes scheitert, oder zumindest enorme Hürden erfährt. Gleichzeitig scheint es schwierig, sich als Beobachter ein klares Bild der Situation zu zeichnen. Bewegt sich die Diskussion auf einer rationalen Ebene und im Rahmen der formalen Gesetze? Oder aber ziehen einflussreiche Oligarchen im Hintergrund informelle Fäden, um ihre privaten Profitinteressen zu sichern?

Ähnliche Vorkommnisse jedenfalls, sind im postsowjetischen Raum kein Einzelfall. In unserem Buch "State Capture, Political Risks and International Business. Cases from the Black Sea Region" zeichnen wir die strukturellen Hintergründe anhand verschiedener Fallstudien nach und entwerfen ein Konzept, um diese Vorkommnisse strukturell analysieren zu können.

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Das Phänomen "State Capture"

Im Mittelpunkt dessen steht das Phänomen des "State Capture". Dieses besagt, dass klientelistische Netzwerke wie zum Beispiel Familienclans und Businesscliquen staatliche Positionen besetzten, um diese für ihre ureigenen privaten Interessen auszunutzen. Diese Eliten zielen darauf, ihre Herrschaft dauerhaft abzusichern. Dies geschieht nicht allein mittels Repression, sondern durch "Privatisierung" öffentlicher Güter und deren Umverteilung in pyramidenförmige Patronage-Netzwerke. Hierdurch werden Legitimität und Loyalität erkauft und das informelle Herrschaftssystem mithin stabilisiert.

In einem solchen Kontext zeichnet sich die öffentliche Ordnung durch zwei parallel existierende Systemlogiken aus. Auf der einen Seite steht die formale, in der Verfassung, in Gesetzen und Verordnungen niedergeschriebene Ordnung. Auf der anderen Seite steht die informelle, in der Praxis gelebte Ordnungslogik. Obwohl sich die formale und die informelle Ordnung in vielfältiger Weise widersprechen, existieren beide Ordnungslogiken synchron und zeichnen sich durch gegenseitige Wechselwirkungen aus. Dies liegt daran, dass herrschende Eliten die formale, kollektive Ordnung für ihre privaten, informellen Herrschaftsziele missbrauchen. Für internationale Unternehmen, die in derartig charakterisierte Märkte investieren möchten, sind damit spezifische politische Risiken verbunden.

Ukrainische Vetternwirtschaft

Eines dieser politischen Risiken bezeichnen wir als "Systemic (Dis)-Favouritism". Herrschende Eliten nutzen alle ihnen zur Verfügung stehende staatliche Macht aus, um Unternehmen aus dem eigenen Netzwerk zu begünstigen und nationale wie internationale Konkurrenten fernzuhalten. Instrumente hierfür sind eine gelenkte Justiz und Bürokratie, sowie bewusst defizitär gehaltene Gesetze und Verordnungen. Willkür, Intransparenz und Rechtsunsicherheit werden so zur Waffe gegen unliebsame Eindringlinge.

Familien- und Businessclans an der Macht

Zurück zur Ukraine: Wie in fast allen anderen postsowjetischen Ländern ist "State Capture" ein grundlegendes Vermächtnis der Sowjetunion. So hatten Parteikader das hochgradig zentralisierte und alle Gesellschaftsbereiche umfassende sowjetische Politsystem zur Entfaltung ihrer klientelistischen Netzwerke genutzt. In den chaotischen Jahren nach Auflösung der Sowjetunion nutzen alte Eliten und gut vernetzte neue Glücksritter die Praxis gelenkter Privatisierungsprozesse dazu, ihre politische und wirtschaftliche Vormachtstellung zu festigen und das Volksvermögen untereinander aufzuteilen.

Unter Wiktor Janukowytschs Herrschaft hatten die Auswüchse des "State Capture" extreme Formen angenommen. So war der nach seiner Heimatregion benannte, auf Familien-, Freundschafts- und Kameradenbanden basierende "Donezk-Clan“ berüchtigt, Staat und Wirtschaft schamlos zu plündern. "Banda Net" – ein Hauptslogan der Maidan-Revolution – zielte vor diesem Hintergrund darauf, die überkommenen Strukturen zu brechen.

Unter dem Ex-Präsidenten Janukowytsch blühte das Phänomen des "State Capture".
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Die Ukraine heute

Doch wo steht die Ukraine heute, mehr als drei Jahre nach Janukowytsch? Wie der aktuelle Ryanair-Fall vermuten lässt, besteht die Problematik des "State Capture" fort. Zwar hat die Revolution das informelle Herrschaftssystem erschüttert und vielfach in Frage gestellt. Unter den Protagonisten haben sich in Folge jedoch lediglich die Kräfteverhältnisse verschoben. Obwohl Konkurrenten, sind sie dennoch geeint, das bestehende System so weit wie möglich zu erhalten. Die politischen und ökonomischen Verwerfungen durch den Konflikt in der Ostukraine kommen ihnen da mehr als gelegen.

Im Rahmen einer Forschungsreise nach Kiew gingen wir im Juni 2016 der Frage nach, wie internationale Unternehmen die politischen Risiken in der Ukraine im Allgemeinen und die Reformen seit der Revolution im Speziellen bewerten. Dabei offenbarte sich, dass die mit "State Capture" verbundenen politischen Risiken in der Rangfolge nach wie vor ganz oben stehen – und nicht etwa die Krimkrise und der Konflikt in der Ostukraine. Poroschenkos Herrschaft wird dabei lediglich als eine neue Konstellation von "State Capture" bewertet. Hinter dem gut inszenierten, pro-westlichen Antlitz und der Reformrhetorik läge die alte Systemlogik verborgen. Die Debatte um die bisher erzielten Reformen wurde dabei vielfach als polarisiert bewertet. Im kollektiven Interessensausgleich zwischen Revolution und Reaktion stünde der Ukraine der kritische Augenblick aber noch bevor. Mit der gegenwärtigen Justizreform wird sich entscheiden, ob sich die Reformkräfte nachhaltig durchsetzen und die Ukraine zu einer sicheren Destination für internationale Investoren wird. (Johannes Leitner, Hannes Meißner, 21.7.2017)

Johannes Leitner ist Leiter des Kompetenzzentrums Schwarzmeerregion (FH BFI Wien).

Hannes Meißner ist Lehrbeauftragter an der Universität Wien, Senior Researcher und Lektor im Kompetenzzentrum Schwarzmeerregion (FH des BFI Wien).

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