Eignet sich, um bekraxelt zu werden: die spektakuläre Bühne der Britin Es Devlin. Davor herrscht – für Bregenz Pflicht – in den spanischen Bergen zuweilen reger Bootsverkehr.

Foto: APA/DIETMAR STIPLOVSEK

Bregenz – Nicht nur die stolze Zigarettendreherin aus Sevilla macht, was sie will; auch die Natur ist ein wahrer Souverän, der sich nicht in die Karten schauen lässt. Zwei Stunden vor Premierenbeginn glänzte das Antlitz von Bundespräsident Alexander Van der Bellen noch in der Abendsonne, eine Stunde später zog ein heftiges Gewitter auf, und aus 20 Prozent Regenwahrscheinlichkeit wurden 100 Prozent Regen.

Bei den Bregenzer Festpspielen ging die "Carmen"-Premiere bei Regen und Wind über die Bühne. Doch das Publikum blieb unverdrossen sitzen und erlebte eine Opernaufführung in spektakulärem Bühnenbild und ausgezeichneter Besetzung.
ORF

Man ließ das Spiel am See trotzdem beginnen, und so ereignete sich die erste Stunde der Oper bei strömendem Regen. Im Verlauf des dritten Akts fand der vertikale Fall des Nasses sein Ende, und die Seepremiere konnte trocken beklatscht werden.

Man könnte nun sagen: hoch gepokert und gerade noch gewonnen. Im Hinblick auf die Blitze, die man während der Vorstellung gleich hinter dem Pfänder und am deutschen Bodenseeufer einschlagen sah, könnte man aber auch von einer sehr hohen Risikobereitschaft der Festspielleitung sprechen.

Der Moment der Schwebe

Die Seeproduktion von Bizets Carmen spielt ihren größten Trumpf gleich zu Beginn aus, und dieser Trumpf ist das Bühnenbild von Es Devlin: die zwei riesigen, aus dem Wasser ragenden Frauenhände und die Spielkarten, die dazwischen durch die Luft wirbeln. Ein tonnenschwerer Bühnenbau, der einen Moment darstellt, in dem alles in der Schwebe ist, in dem sich ein Schicksal entscheidet.

Das Bühnenbild bezieht sich auf eine Szene im dritten Akt, als Carmen die Karten zu ihrer Zukunft befragt und den Tod als Antwort bekommt. Der dritte Akt ist auch der atmosphärisch Stärkste der Inszenierung. Zwar bekraxeln Schmugglerkomparsen die Spielkartenlandschaft in inflationärer und komplett sinnbefreiter Weise, und mit der Ankunft von Escamillo setzt in den spanischen Bergen reger Bootsverkehr ein – in Bregenz ein Muss für jede Seeinszenierung. Aber die abgedunkelten Spielkarten und die Lagerfeuer lassen Stimmung aufkommen – was zuvor nur in eingeschränkter Weise gelungen war.

Im ersten Akt blieben die zahlreichen Spielkarten blank, ab dem zweiten wurden sie durch Videomapping etwas verlebendigt. Doch warum nur auf so fade, altbackene Weise? Größtenteils sah man farbige Spielkarten oder vergilbte Ansichtskarten von Sevilla und von Toreros – das nützte sich schnell ab. Warum die Chance vergeben wurde, alle Spielkarten zusammen als eine Projektionsfläche zu verwenden und so entweder die Orte der Handlung anzudeuten (worauf komplett verzichtet wurde) oder sich in großflächiger symbolischer Bildermalerei zu ergehen, blieb ein Rätsel. (Philippe Arlaud zeigt zurzeit beim Rigoletto in St. Margarethen, was diesbezüglich möglich ist.) Immerhin wurden den 7.000 Zuschauern die Sänger ab und zu durch Live-Projektionen nahegebracht.

Regisseur Kasper Holten verzichtete zudem fast komplett auf Requisiten, was der Unternehmung einen etwas kahlen, aseptischen Charakter verlieh. Fetzige, nah am Wasser gebaute Tanzperformances (Choreografie: Signe Fabricius) peppten etwas auf; der Streit der Fabrikarbeiterinnen im ersten Akt war fast schon professioneller Kampfsport. Die Kostüme boten einen farbenfrohen Mix der Zeiten; für Carmens an einem Bein aufgekrempelte Jeanshose im ersten Akt bekommt Anja Vang Kragh den Aber-jetzt-nicht-wirklich-Award.

Rebellisches Vogerl

Gaëlle Arquez war als Carmen gesanglich ganz wohltönende Schönheit mit einem Hang zu verschlafenen Tempi (bei ihrer Schilderung der Liebe als ein rebellisches Vogerl), man misste in ihrer Stimme Laszivität und fordernde Härte. Daniel Johansson zeigte als Don José eine leicht premierenfiebrige, durchwachsene Leistung, Scott Hendricks gab den eitlen Escamillo mit dauerdröhnendem Bariton.

Rührend und makellos die Micaëla von Elena Tsallagova, speziell in ihrer großen Arie im dritten Akt, die sie in luftiger Höhe sang, in der Hand Carmens quasi. Top auch die Leistung von Paolo Carignani, der die Wiener Symphoniker und den Chor vom Festspielhaus aus auf akkurate Weise leitete; beim Quintett im zweiten Akt ging es flott zur Sache.

Die unberechenbare, bindungsunfähige Carmen muss auch in Bregenz am Ende sterben, sie wird allerdings von Don José nicht erdolcht, sondern – Achtung, Spoiler! – ertränkt. Echt eine – Achtung, Ironie! – originelle Idee. Jubel für eine Premiere, die komplett im Zeichen des Wassers stand. (Stefan Ender, 20.7.2017)