Angela Merkel fehlt es in der EU-Politik etwas an Großzügigkeit.

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Martin Schulz ist leidenschaftlich für Europa, etwas sprunghaft.

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Aus Deutschland kommen gute Nachrichten für die Europäer. Ende September wird in dem für die Zukunft der Gemeinschaft neben Frankreich wichtigsten Mitgliedsland das Parlament gewählt. Ganz anders als zuletzt bei Wahlgängen eben in Frankreich, in den Niederlanden und bei den Bundespräsidentenwahlen in Österreich müssen die Partner diesmal keine bösen Überraschungen befürchten.

Die antieuropäischen Rechtspopulisten der Alternative für Deutschland (AfD) werden keinen "Durchmarsch" schaffen. Sie spielen machtpolitisch keine Rolle, das scheint fix. Ähnliches gilt für die EU-skeptische Linkspartei. Manche in der SPD und vor allem bei den Grünen mögen noch immer von Rot-Rot-Grün träumen. Ein Bundeskanzler Martin Schulz ist in dieser Konstellation schwer vorstellbar. Zu unbeliebt ist diese Variante in der Wählergunst.

Mit der absehbaren Rückkehr der FDP in den Bundestag würde der SPD-Chef bei einem Sensationserfolg eher die Ampelkoalition von Rot-Gelb-Grün versuchen, sollten CDU/CSU unerwartet doch einbrechen.

Für sehr wahrscheinlich halten die Wahlforscher im Moment aber ohnehin, dass CDU-Chefin Angela Merkel klar gewinnt, Kanzlerin bleibt, in eine vierte Regierungsperiode geht, vergleichbar nur mit dem im Juni verstorbenen Europakanzler der Wiedervereinigung, Helmut Kohl. Er hat 16 Jahre lang regiert.

Aber auch wenn Schulz, der langjährige EU-Parlamentspräsident, die Wahl verliert, muss das nicht heißen, dass er aus dem Spiel wäre. Er könnte unter Umständen sogar auf der europäischen Ebene ein Comeback feiern.

Merkel, ein zweiter Kohl

In jedem Fall wird Deutschland politisch stabil bleiben, verlässlicher Partner in der Europäischen Union, der Integration der Eurozone zugewandt. Das lässt sich auch aus den Positionen und Programmen beider Kandidaten prinzipiell herauslesen. Die Zeit der Lähmung in der EU könnte zu Ende gehen, trotz Brexit-Verhandlungen und EU-Wahlen 2019.

Das führt zur Frage, wer geeigneter wäre, die politischen und wirtschaftlichen Herausforderungen in Europa in den nächsten Jahren – vor allem Migration und Euro – zu bewältigen: Christdemokratin Merkel oder Sozialdemokrat Schulz? Oder am Ende sogar beide, in einem Team?

Das Bemerkenswerte an beiden Kanzlerkandidaten ist, dass sie als tief überzeugte Proeuropäer gelten, auch fast gleich alt sind, aber von ihrer Herkunft her, im Zugang zur Geschichte der EU und ihres Landes, unterschiedlicher nicht sein könnten. Da ist Angela Merkel, 63 Jahre alt, promovierte Physikerin, in der SED-Diktatur der DDR aufgewachsen. Das prägt.

Sie betreibt Politik mit naturwissenschaftlicher Genauigkeit, hat sich zu Partnern in Europa stets eine gewisse Grundskepsis bewahrt, bleibt persönlich lieber auf Distanz. Seit 2005 im Amt, hat sie eine andere Eigenschaft, die – mit Ausnahme von Kommissionschef Jean-Claude Juncker – kein anderer Regierungschef auch nur annähernd erreicht: Erfahrung.

Ihr Stil auf EU-Ebene bisher: Gründlichkeit vor Schnelligkeit, ein Schritt nach dem anderen, keine großen Würfe oder Pläne. Nur im Herbst 2015 machte sie eine Ausnahme, als sie die Grenzen für hunderttausende Flüchtlinge öffnen ließ, ohne Absprache mit den wichtigsten Partnern in der EU. Das hat ihr zu Hause zunächst Bewunderung, in den meisten Mitgliedstaaten aber Kritik eingebracht.

Bei einer Wiederwahl könnte Merkel auf EU-Ebene in die Liga des ewigen Europakanzlers Helmut Kohl eintreten, der durch starke Allianzen über die Länder- und Parteigrenzen hinweg den Kontinent politisch veränderte wie kaum jemand in Friedenszeiten. Seine Methode war anders: Im Zweifel eher großzügig sein.

Schulz, der rote Kohl

Ex-US-Präsident Bill Clinton hat vor drei Wochen beim Staatsakt in Straßburg vor Kohls Begräbnis in Speyer eindrucksvoll daran erinnert, was ein Regierungschef an Integrationsleistung vollbringen kann, wenn er das Vertrauen der Partner gewinnt.

Und dann ist da Martin Schulz, 61 Jahre alt, ein Autodidakt ohne Abschluss einer höheren Schule, der sich mit Fleiß an die Spitze der europäischen Politik hochgearbeitet hat, neben Deutsch fließend Englisch und Französisch spricht. Wie Kohl ist er Rheinländer, in der Nähe von Aachen an den Grenzen zu Belgien und den Niederlanden geboren, durch und durch als Kern- und Westeuropäer im transatlantischen Bündnis sozialisiert. Mit Osteuropa hatte er kaum zu tun.

In seinem Zugang zur Europapolitik ist Schulz eine Art "roter Kohl": Im Zweifel spricht er sich eher für die europäische Lösung aus als für eine nationalstaatliche. Schulz ist laut, leidenschaftlich. Aber wenn es in schwierigen Krisen wie bei Griechenland oder bei EU-Budgetfragen darauf ankam, zeigte er Handschlagqualität. Das schätzte in den vergangenen Jahren nicht nur Juncker, sondern auch Merkel. Die drei haben viele Deals gemacht, Schulz oft zwischen Merkel und dem sozialistischen französischen Präsidenten François Hollande vermittelt.

Anders als der SPD-Chef, der fast seine ganze politische Laufbahn aus der Sicht eines EU-Abgeordneten in Straßburg und Brüssel zubrachte, kennt Merkel die Union vor allem aus nationalstaatlicher Perspektive, als frühere Familien- und Umweltministerin beziehungsweise nun Kanzlerin. Auch das prägt die Art, wie sie Europapolitik macht. Die Kommission war ihr nie ganz geheuer. Lieber redet sie mit Regierungen.

Profunde EU-Reform

Deutlich anders sieht das der SPD-Kanzlerkandidat: Er ist tief davon überzeugt, dass die EU-Institutionen – Parlament, Kommission, Gerichtshof – gestärkt werden müssen, um die nationalstaatlichen Egoismen zu überwinden. Er will eine profunde EU-Reform.

Merkel würde dem zwar nicht widersprechen. Aber die Art, wie sie seit dem Amtsantritt 2005 Krisenmanagement betrieb, zeugt vom Gegenteil. Krisen gab es reichlich: 2007 Reparatur des gescheiterten EU-Verfassungsvertrags, 2008 Banken und Finanzkrise, ab 2010 Griechenland-Krise, Euro-Krise, 2011 Libyen-Krieg, 2013 Ukraine-Krise, 2014 Russland/Krim-Krise, 2015 Migrationskrise, 2016 Brexit-Referendum. Die Kanzlerin setzte stets mehr auf Regierungszusammenarbeit, weniger auf Brüssel.

Ihre und der Deutschen Dominanz zeigte sich aber besonders deutlich (und zur wachsenden Verbitterung vieler EU-Staaten) bei der Fiskal- und Europolitik. Darin besteht vermutlich auch der größte Unterschied zu Schulz, der sich für ein eigenes Eurobudget ebenso einsetzt wie für einen EU-Finanzminister. Er will mit Eurobonds große Wirtschaftsprojekte ankurbeln, die Volkswirtschaften verzahnen, dazu eine echte europäische Sozialpolitik starten, wie er am Donnerstag bei einem Besuch beim französischen Präsidenten Macron in Paris betonte.

Dieser hat der Kanzlerin ähnliche Pläne vorgeschlagen, und sie hat dies im Prinzip auch begrüßt. Aber sie hat, wie schon bei dem von ihr 2011 durchgesetzten Euro-Fiskalpakt, klargestellt, dass jegliche direkte Schuldenverantwortung für andere tabu sei.

Solidarität oder Stabilität

Stabilität, kein Risiko – damit ließe sich das Programm Merkels für Europa auf den Punkt bringen. Bei Schulz gilt das auch, aber er legt das Gewicht auf den Begriff Solidarität in einem umfassenden Sinn: Diese soll für Menschen wie Länder gelten.

Wer wäre also besser für die gemeinsame Zukunft in der Europäischen Union? Vermutlich eine Mischung aus beiden Politikern mit ihren jeweils sehr speziellen EU-Erfahrungen. Dem lauten europäischen Romantiker Schulz würde die Regierungserfahrung und die vernünftige Kontrolliertheit der Kanzlerin guttun.

Die risiko- und visionsarme Merkel könnte einiges von der Leidenschaft, der rhetorischen Kraft des SPD-Chefs brauchen. Vielleicht kommt das sogar, sollte Merkel Kanzlerin bleiben und Schulz etwa Außenminister und ihr EU-Antreiber werden. Das Gespann würde in gewisser Weise an Kohl und Hans-Dietrich Genscher erinnern. (Thomas Mayer, 24.7.2017)