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Wien – Nikolaus Forgó, Professor für IT-Recht und Rechtsinformatik an der Uni Hannover, im Gespräch über das postfaktische Zeitalter, das emanzipatorische Potenzial der Multifaktizität, alte und neue Filterblasen, problematische Gesetzesinitiativen gegen Hatespeech und Fake News, die Zukunft der Medien und der staatlichen Überwachung.

STANDARD: Sie halten nächste Woche bei der Sommerhochschule der Universität Wien den Hauptvortrag und werden über "Medien und Politik im postfaktischen Zeitalter" sprechen. Wie neu ist denn dieses Phänomen der Postfaktizität?

Forgó: Postfaktizität ist nichts Neues, das gab es schon immer. Wer alt genug ist, sich daran erinnern zu können, wie es sich anfühlte, in den 1980er-Jahren eine Waschmaschine kaufen zu wollen, weiß, wovon ich rede: Man war bedingungslos einem Verkäufer ausgeliefert, der wenig mehr Ahnung hatte als man selbst, der dafür aber mit Bestimmtheit dieselbe Marke, dasselbe Modell jedem Kunden einzureden versuchte mit Argumenten, die man nur quasireligiös glauben konnte, weil es keinerlei Möglichkeit gab, sie zu überprüfen, und die oft auch nicht aufrichtig waren – verkauft wurde nicht die beste Waschmaschine, sondern die mit der höchsten Gewinnmarge.

STANDARD: Unser Waschmaschinenkauf heute ist demnach eher auf harte Fakten gestützt?

Forgó: Heute kann ich, wenigstens im Grundsatz, jederzeit alles über jede Waschmaschine in Sekunden lernen, ich kann mich mit anderen organisieren, die sich auch für Waschmaschinen interessieren, und ich kann ein Geschäftsmodell entwickeln oder nutzen, in dem ich vielleicht gar keine Waschmaschine mehr brauche, weil ich sie mit anderen teile. Das hat, wie wir wissen, ganze Branchen umgewälzt.

STANDARD: Wie etwa die Medienbranche.

Forgó: Genau, denn Medien waren vor nicht allzu langer Zeit auch nichts anderes als Waschmaschinenverkäufer, die einen aus der professionellen Beschäftigung resultierenden Informationsvorsprung gebündelt haben und daraus ein Produkt gemacht haben, das einen Preis hatte. Beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk musste der sich im Übrigen manchmal nicht einmal mehr auf einem Markt durchsetzen lassen. Medien hatten so etwas wie eine Torwächterfunktion, die vor allem daraus legitimiert wurde, dass sie einen Informationsvorsprung hatten und professionell agierende und bezahlte Informationsauswertung.

STANDARD: Dieser Informationsvorsprung ist heute kleiner geworden.

Forgó: Oder eher: längst verschwunden. Das kann jeder beobachten, der zusieht, wie bei einem größeren Ereignis klassische Medien beginnen, Tweets zu senden oder Reddit zu zitieren. Das gilt aber nicht nur in Zeiten eines Terroranschlags oder einer Naturkatastrophe, sondern auch für die Professionalität der Informationsauswertung: Wenn ich mich heute für ein Thema wirklich interessiere ...

STANDARD: Wie zum Beispiel Waschmaschinen ...

Forgó: ... kann ich fast alles fast so schnell und fast so gut finden wie jeder Profi. Ich muss dafür gar nicht mehr den Schreibtisch verlassen, und ich finde sehr schnell und meist gratis die Experten, die fast jedem Journalisten überlegen sind, weil sie nichts anderes im Leben machen oder interessant finden. Umgekehrt brauchen diese Experten oder auch Politiker kein Medium mehr, sondern verbreiten ihre Informationen einfach selbst. Plötzlich spricht "der Präsident" "direkt" zu "mir". Postfaktizität, um auf diesen Begriff zurückzukommen, ist also vielmehr Multifaktizität. Und Multifaktizität ist eine große Chance mit großem emanzipatorischem Potenzial.

STANDARD: Das sehen nicht alle so. Viele fürchten im Gegenteil, dass Menschen etwa durch soziale Medien und die vielzitierten Filterblasen leichter manipuliert werden können. Sehen Sie diese Gefahr nicht?

Forgó: Unsere Sicht der Welt ist immer geprägt durch unser Vorverständnis von der Welt. Und das wiederum ist Ergebnis und Ausgang von dem, was wir über Phänomene der Welt wissen und von anderen lernen. Wenn nun sehr viele Menschen sehr viel über soziale Medien über die Welt lernen, dann hat das, wie dieses Lernen organisiert wird, Auswirkungen auf die Perzeption der Welt und damit für die Welt dieser Menschen. Das war aber früher auch nicht anders – nur weniger vernetzt und damit weniger komplex organisiert. Wenn ein Fernsehkommentator in der "Zeit im Bild" eine Wahl in den 1980er-Jahren kommentierte, hatte auch das Auswirkungen auf die Welt der Zuhörer – ähnlich, wie es eben heute Auswirkungen auf unsere Welt hat, in welcher Filterblase wir uns befinden.

STANDARD: Aber unsere Filterblasen heute sind doch etwas anders strukturiert.

Forgó: Früher bestand die Filterblase halt aus dem Dorflehrer, dem Schulbuch, der sozialen Herkunft, der Sprache, die man sprach, und der Zeitung, die man las. Grundsätzlich sind Filterblasen wahrscheinlich Voraussetzung unseres Überlebens, weil sie es uns ermöglichen, die unendliche Komplexität der Welt auf ein Maß zu reduzieren, mit dem wir umgehen können. Neu ist, dass es jetzt viel mehr Blasen gibt und dass sie uns zunehmend in jedem Moment unseres Lebens begleiten.

STANDARD: Neu ist auch, dass sie mittlerweile von Facebook und Co maßgeschneidert werden können.

Forgó: Richtig. Über Computer, das Internet und soziale Netzwerke ist es sehr einfach und sehr billig, die Filterblasen sehr vieler Menschen maschinell zu verändern und genau zu beobachten, zu welchen Verhaltensänderungen diese Veränderungen führen. Das ist etwas, woraus viel politisches und ökonomisches Potenzial entstehen kann – und von der Trump-Kampagne besonders gut verstanden wurde, wie es heißt. Angeblich haben Trumps Mitarbeiter an einem einzigen Tag 175.000 Varianten von Werbeeinschaltungen auf Facebook verwendet und mit dem erlernten Wissen sehr erfolgreich sehr spezifische Gruppen von Wählern mobilisiert oder von der Wahl der Gegenkandidatin abgehalten. Manche nennen Trump deswegen den ersten Facebook-Präsidenten.

STANDARD: Anscheinend haben auch Bots – also Computerprogramme, die weitgehend automatisch Aufgaben abarbeiten – in diese Wahl eingegriffen.

Forgó: Klar, auch durch Bots lässt sich Einfluss auf Wahlen nehmen. Aber auch das ist keine unbewältigbare Gefahr, sofern nur allen ausreichend klar ist, dass Bots verwendet werden und dieses Wissen in die Analyse der Welt einbezogen wird. Es gibt aktuelle Studien, die zu dem Ergebnis kommen, dass in China durch Menschen, nicht Maschinen, gegen Bezahlung 450 Millionen regimeunterstützende Posts pro Jahr abgesetzt werden, das sind in jeder Sekunde an die 15 Posts. Die Angst vor den Bots ist häufig Ausdruck einer breiter angelegten Technophobie. Auch in dem Fall sehe ich eher eine neue Chance: dass viele mit vielen über vieles reden können und die Weltsicht vieler nicht mehr vor allem von Frau Dichand, Herrn Fellner oder Herrn Jeannée bestimmt wird. Was es braucht, ist kein Verbot von Chatbots oder Fake-Accounts, sondern Aufklärung und Wissen über die eingesetzten Technologien und ihre Möglichkeiten.

STANDARD: Trump, der Facebook-Präsident, reagiert vor allem mittels Twitter und versucht dort ständig die Glaubwürdigkeit der ihm missliebigen traditionellen Medien zu untergraben. Lässt sich abschätzen, welche Effekte das für die angegriffenen Medien hat?

Forgó: Ich denke, es ist auch für die solcherart angegriffenen Medien eine Chance, wenn die Torwächterfunktion, die sie ohnehin nicht mehr haben, auf diese Weise bestritten wird. Das kann im besten Fall nämlich ein weiterer Anlass sein, die sich verändernden Bedingungen des Marktes zu verstehen und sich diesen anzupassen. Es ist sehr einfach, nach mehr Regulierung sozialer Netzwerke zu rufen, ein Leistungsschutzrecht für Presseverleger zu verlangen, Bots verbieten zu wollen und so weiter. Es ist sehr viel schwieriger zu identifizieren, worin ein Mehrwert liegen kann, der Menschen motiviert, "klassische" Medien weiter zu nutzen – und dafür idealerweise auch noch etwas zu bezahlen.

STANDARD: Durch das Internet sind jedenfalls die traditionellen Erlöse der Printmedien zurückgegangen. Sehen Sie auch da die Medienpolitik aus demokratiepolitischen Gründen gefordert? Oder soll das einfach der Markt "regulieren"?

Forgó: Vieles davon hat der Markt ohnehin schon erledigt. Ich weiß nicht, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass es in 20 Jahren lineares Fernsehen außerhalb einer kleinen Nische wirklich noch gibt oder eine Zeitung auf Papier erscheint. Meine persönliche Erwartung ist, dass das nicht sehr wahrscheinlich ist. Was es vermutlich aber weiterhin geben wird, sind Personen – oder künftig Maschinen –, die mir Phänomene in der Welt, die ich nicht gut verstehe, erklären und mir helfen, diese Phänomene einzuordnen. Da ergibt sich womöglich eine Nische für Medien. Eine andere, die der STANDARD ja sehr gut besetzt, besteht vielleicht in der Verzahnung von eigenen Informationen mit der Organisation von Diskursräumen – etwa hier im Forum.

STANDARD: Wie sehen Sie die Zukunft der sozialen Netzwerke? Und wie kann oder soll man die regulieren?

Forgó: Die werden ganz sicher nicht einfach wieder verschwinden. Es ist nun die eine Frage, ob man auf Marktentwicklungen regulatorisch reagieren kann, und die andere, ob nationale Regulierung irgendetwas bewirkt. Hinsichtlich vieler Gesetzesinitiativen – insbesondere zur Bekämpfung von Hasspostings und Fake News – bin ich ausgesprochen skeptisch, weil ich sie für grundrechtlich sehr problematisch halte und für den Ausdruck eines hilflosen "Shoot the messenger"-Ansatzes. So wichtig Medienförderung sein mag, so wichtig ist deswegen vor allem auch eine Erhöhung der digitalen Kompetenz und digitalen Wettbewerbsfähigkeit des Landes. Das erscheint mir besonders wichtig, wenn ich beobachte, wie sich die nationale Politik hier auf- oder, besser, anstellt. Entsprechend sind wir in Österreich bestenfalls im Mittelfeld beim Stand der Digitalisierung in der EU – mit unterdurchschnittlichen Werten bei der Nutzung von Internetdiensten.

STANDARD: Sollten wir uns also eher an die EU halten?

Forgó: Die EU ist weltweit gesehen auch nicht gerade Avantgarde. Aber sie leistet sehr viel Sinnvolles in ihren Initiativen zum digitalen Binnenmarkt – so insbesondere auch schon durch Herstellung von Transparenz hinsichtlich der Fakten, die zur Bewertung der Priorität und der Wirkung politischer und rechtlicher Maßnahmen herangezogen werden. Eine große Menge "harter" Information ist hier sehr einfach verfügbar.

STANDARD: In Österreich sind umgekehrt die Verhandlungen über die Abschaffung des Amtsgeheimnisses und zu mehr Transparenz in der Verwaltung Ende Juni abermals gescheitert. Zugleich will der Staat mehr Überwachung seiner Bürger. Was halten Sie für das größere Problem?

Forgó: Das ist im Grunde ein und dasselbe Problem: nämlich die Fortsetzung josephinischer Traditionen, von denen dieses Land in vielen Bereichen weiterhin sehr stark geprägt ist. Es bleibt zu hoffen, dass wir auch hier mit der Aufklärung noch nicht am Ende sind. (Klaus Taschwer, 28.7.2017)