ÖVP-Chef Sebastian Kurz will erst im September sein Programm vorlegen.

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Es ist ein Paradoxon der Demokratie: Wählerinnen und Wähler der Mitte – und dort sind die Mehrheiten zu finden – wollen, dass sich vieles ändert, aber möglichst alles gleich bleibt. Politiker müssen Reformen versprechen und gleichzeitig Stabilität und Kontinuität vermitteln.

Am besten ist dieses Kunststück zuletzt dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron gelungen: Als Reformer mit Herz versprach der linksliberale Exbanker im Wahlkampf den Bruch mit dem alten System, in dem der Staat alles regelt, und gab sich dennoch als Bewahrer des Sozialstaats. Auch die deutsche Kanzlerin Angela Merkel schafft es seit ihrem ersten, fast missglückten Wahlkampf gegen Gerhard Schröder im Jahr 2005, Sicherheit und Veränderung in einem glaubwürdigen Gesamtpaket zu verkaufen. Das dürfte ihr im September zum Sieg verhelfen: Ihr SPD-Herausforderer Martin Schulz wirkt im Vergleich altbacken und – vor allem für Besserverdiener – zugleich riskant.

Vor dieser Herausforderung stehen auch die heimischen Spitzenkandidaten, allen voran SP-Chef Christian Kern. Sein Image ist das eines smarten Machers, und das brachte er in seinen ersten Auftritten und auch in seiner Plan-A-Rede zu Jahresanfang rüber. Seine Botschaft im laufenden Wahlkampf klingt hingegen wie von der Gewerkschaft diktiert.

Bei einem früheren Kanzler mit Managervergangenheit hat dieses Rezept gegriffen: Franz Vranitzky wehrte 1995 den Angriff von ÖVP-Chef Wolfgang Schüssel mit seinem berühmten Pensionistenbrief ab, in dem er den Wählern versprach, dass ihnen nichts weggenommen werde. Aber Vranitzkys Image war weniger glatt als das Kerns, und die Zeiten waren etwas anders. Kern droht hingegen zwischen zwei Stühlen zu landen: dann nämlich, wenn ihm weder Senioren glauben, dass er sie vor allem Unbill schützen wird, noch die jüngeren Aufsteiger, dass er ihre Steuerlast verringern und die Wirtschaft modernisieren wird.

Vranitzkys Erfolg hing auch mit der Person Schüssel zusammen, der stets intellektuelle Überheblichkeit und soziale Kälte ausstrahlte; das kostete diesen auch 2006 den Wahlsieg gegen Alfred Gusenbauer. Sebastian Kurz ist hier besser aufgestellt: Er strahlt etwas aus von der Perfekter-Schwiegersohn-Aura eines Karl-Heinz Grasser, dem Unternehmer auch dann zujubelten, als er ihnen höhere Steuern aufbrummte. Allein indem Kurz den Bürgern garantiert, sie vor neuerlichen Flüchtlingswellen zu bewahren, wird er emotional zu ihrem Beschützer.

Aber auch auf ihn wartet eine Gratwanderung: Will er bei der Präsentation seines Wirtschaftsprogramms im September als moderner Reformer glaubwürdig wirken, dann muss er konkrete, auch schmerzhafte Einschnitte in Aussicht stellen, etwa bei Pensionen. Dies würde der SPÖ und auch der FPÖ endlich Angriffsflächen gegen ihren Teflongegner bieten.

Kurz' Rechnung kann dennoch aufgehen, denn die Mehrheit der Österreicher ist sich bewusst, dass sich eine erfolgreiche Wirtschafts- und Sozialpolitik nicht auf die Verteidigung wohlerworbener Rechte beschränken kann – was der SPÖ-Slogan "Ich hole mir, was mir zusteht" aber genau suggeriert.

Wenn Kurz bei seinem Mentor Schüssel Rat sucht, dann sollte dieser aus Selbstkritik bestehen. Nur wenn er genügend Empathie vermittelt, hat Kurz eine Chance, die widersprüchlichen Wählerwünsche zu erfüllen. Wie Kern noch aus seinem Reformdilemma herausfinden kann, ist hingegen unklar. (Eric Frey, 4.8.2017)