St. Pölten/Wien – "Ich bin allergisch gegen das Wirgefühl. Alle reden ja heutzutage vom Wir, aber wer ist das? Ich bin es jedenfalls nicht. Und ich kenne viele, die sind es auch nicht."

Ob der große bayerische Menschenbeobachter, Philosoph, Grantler und trotzdem halbwegs ein Humanist gebliebene Gerhard Polt nun unbedingt den vermeintlichen Zauber eines Gemeinschaftsgefühls bei Open-air-Festivals mit dieser aus 2010 stammenden Interwiew-Aussage meint, bleibt dahingestellt. Wie bei jedem großen Philosophen oder Stammtischbruder erschließt sich der Reiz der Weisheit in deren Uneindeutigkeit. Schließlich klafft die Schere zwischen "Ich ist ein anderer" und "Mia san mia" mitunter weit auf.

Placebo bei ihrem Konzert am Frequency im Jahr 2014.
Foto: APA/HERBERT P. OCZERET

2010 waren beim seit 2001 bestehenden Frequency-Festival nach den Stationen Arena-Wien und Salzburgring auf dem seit 2009 als Standort dienenden VAZ-Messegelände in St. Pölten jedenfalls auch schon die heurigen Headliner Billy Talent, Mumford & Sons und Bilderbuch dabei. Die beiden Erstgenannten damals schon als Headliner. Bilderbuch spielten laut Programm allerdings noch nicht kurz vor Mitternacht vor den Massen wie jetzt zum zweiten Mal nach 2016 auch heuer kommenden Mittwoch wieder. Sie spielten bei Tageslicht, mit einer Auftrittszeit knapp nach dem Ö1-Mittagsjournal, eher nur vor Leuten, die nachts nicht in die Zelte neben dem Festivalgelände gefunden hatten.

Unterkomplexe Melancholie

Irgendwann hat es einmal eine Zeit gegeben, in der man allerhöchstens auf Festivals fuhr, weil man damals noch fremde Hilfe brauchte, um Depressionen zu bekommen. Heute geht das mit der Lebenserfahrung auch im kleinen Rahmen zu Hause. Und ohne Wirgefühl mit Sonnenbrand. Viele der Bands, die jetzt beim kommenden Dienstag startenden dreitägigen Frequency-Festival zu sehen sind, hat man auf der Schotterpiste nahe der Westautobahn in St. Pölten schon gesehen. Zumindest hat man etwa bei den immergrünen Alternative-Rockspatzen Placebo das Gefühl, dass man sie alternierend entweder auf dem Frequency in St. Pölten oder beim Nova Rock in Nickelsdorf sieht.

Yuno

Oder sehen könnte, wenn man wollte. Alles geht, nichts muss. Wenn Placebo nicht überhaupt jährlich anschließend im Herbst in der Wiener Stadthalle gastieren – was auf einen gewissen didaktischen Ansatz des Veranstalters schließen lässt, den Leuten solange etwas einzubläuen, bis sie das jährlich ziemlich gleich Gebotene irgendwann selbst einfordern.

Jedenfalls zeichnen sich Brian Molko mit seiner zart blasierten Nasenbärstimme, der forsch gestrampften, nicht zu sehr verzerrten elektrischen Wandergitarre und seine Band Placebo (lateinisch für "Ich werde gefallen") dadurch aus, dass sie, wie so viele andere im Geschäft der Musik mit kurzer Aufmerksamkeitsspanne, ungefähr regelmäßig schon wieder ein neues, gefälliges und etwas unterkomplexes Album im Zeichen des Weltschmerzes veröffentlichen. Es klingt seit über 20 Jahren gleich. Schön. Traurig. Ganz schön traurig. In alten Zeiten meinte man im Deutschen mit "Jemandem ein Placebo singen" abseits scheinheiliger Begräbnisse übrigens etwas, das man heute als Arschkriechen bezeichnet.

Wiz Khalifa

Neben den genannten Stammgästen oder den Stadiontechnostars Moderat sowie selbstverständlich Wanda heuer als interessante Acts dabei: US-HipHopSuperstar Wiz Kahilfa sowie der derbe junge Wiener Transdanubier Yung Hurn. (Christian Schachinger, 14.8.2017)