Ohne Arme und Beine auf die Welt gekommen: Seine Behinderung, sagt Georg Fraberger, ist sehr oft vor allem ein Problem für die anderen.

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Georg Fraberger: Wie werde ich Ich. Residenz-Verlag, 192 Seiten, 22 Euro (erscheint im September 2017)

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STANDARD: Bei Darwins "survival of the fittest" geht es nicht ums Überleben der Stärksten, sondern ums Überleben der am besten Angepassten. Wie mussten Sie sich an die Umwelt anpassen?

Fraberger: Ich musste in der Mobilität fit werden und auch im Vordenken. Wenn ich heute weiß, dass es mir nicht möglich sein wird, mit meiner Frau barfuß im Sand bei Vollmond spazieren zu gehen, muss ich mir überlegen, wo eine Bank steht, damit wir auf einer Ebene den Vollmond betrachten können. Darin bin ich – hoffentlich – sehr fit geworden.

STANDARD: Sie haben in einem Interview einmal gesagt, dass Sie nicht nur überleben, sondern leben wollten. Wann haben Sie das beschlossen?

Fraberger: Drastisch geändert hat sich mein Leben mit dem Studium. Zur Universität musste ich mit dem Rollstuhl fahren, die Straßenbahn war damals nicht barrierefrei. An der Uni wusste ich zunächst nicht, wie ich wo hinkomme, ob es Stiegen gibt, ob das alles klappen wird. Meine Mutter hat damals gesagt: Was ist das Schlimmste, was passieren kann? Ich sagte: Dass mich keiner mag. Sie meinte, das kannst du riskieren, wenn dich wirklich keiner mag, kommst du einfach wieder nach Hause, wo dich alle mögen. Also bin ich los. Das war ein entscheidender Moment, wo ich verstanden habe, dass ich, wenn ich etwas möchte, auch was tun muss.

STANDARD: Sie betonen immer wieder, dass Ihre Eltern Ihnen viel Raum für Entwicklung gegeben, aber Sie auch nicht geschont haben. Sind das die Zutaten für eine gelungene Erziehung? Geben Sie das heute auch so an Ihre Kinder weiter?

Fraberger: Ja. Ich war immer sehr froh, dass ich eigentlich dieselben Probleme wie meine Brüder hatte. Sowohl meine Eltern als auch meine behandelnden Ärzte haben immer geschaut, dass ich mitmache. Aber es kommt noch etwas Drittes dazu: Wenn ich aufgrund meiner Behinderung Hilfe brauche, also beispielsweise wo hingehoben werden muss, ist das körperlich sehr nah. Dadurch ist es mir gelungen, mit meinem Körper sehr selbstverständlich umzugehen. Natürlich habe auch ich eine natürliche Schamgrenze, die ich nicht überschreiten will, aber Nähe fällt mir nicht schwer. Mir fällt auf, dass viele Menschen keine Nähe mehr zulassen.

STANDARD: Der Leistungsdruck heute ist enorm, und viele Eltern stehen unter dem Stress, ihre Kinder fit für die Gesellschaft zu machen. Wie sehen Sie diese Entwicklungen als Vater von vier Kindern und als Psychologe?

Fraberger: Man ist nur dann wirklich fit, wenn man mit Misserfolg richtig umgehen kann. Fit ist man, wenn man gut aushält, irgendwann einmal nicht fit für etwas zu sein. Ich kann mich an eine Studienkollegin erinnern, die einmal ein "Nicht genügend" in einem Fach geschrieben hat und deswegen das Studium beenden wollte. Noten, das versuche ich meinen Kindern zu vermitteln, interessieren mich nicht wirklich.

STANDARD: In Ihren Büchern geht es auch um Selbstliebe. Lässt sich die ohne ein stabiles Elternhaus überhaupt entwickeln?

Fraberger: Ich glaube, man braucht zumindest eine Person im Leben, die einen akzeptiert und wirklich liebt. Aber wenn man es gewohnt ist, etwas zu hinterfragen, kann man so etwas auch selbst entwickeln. Wenn man nur die gute Note als Erfolg zählt, wird man erkennen, dass es darum gar nicht geht. Sondern dass es um eine Beziehungsfähigkeit geht, die zum Erfolg führt. Es ist kein Misserfolg, nur weil ich von irgendjemandem nicht gemocht werde.

STANDARD: 2013 erschien "Ohne Leib mit Seele". Ihre These: Neben Körper und Geist muss es noch etwas geben, das den Menschen im Kern ausmacht: die Seele. Leben wir in einer seelenlosen Zeit?

Fraberger: Im Moment leben wir wirklich in einer seelenlosen Zeit. Im Studium haben wir gelernt, dass der Mensch aus Verstand und Körper besteht. Mit dem einen denken wir, mit dem anderen fühlen wir. Erst nach dem Studium habe ich begonnen, mit Menschen zu arbeiten, die diesen Verstand nicht mehr haben, entweder durch schwere Hirnschädeltraumata oder geistige Behinderungen. Trotzdem hat man diese Menschen gemocht, erkannt und gesehen. Das war der Punkt, an dem ich dachte: Da muss es noch etwas geben. Ich dachte immer, mein Verstand kompensiert diesen mangelhaften Körper. Mittlerweile denke ich das nicht mehr: Mein Verstand kompensiert gar nichts. Denn so viel weiß man als Psychologe nun auch wieder nicht. (lacht)

STANDARD: Sie wissen, dass Glück nicht von einem intakten Körper abhängt. In unserer Gesellschaft geht es aber viel um ein perfektes Körperbild, alle laufen ins Fitnessstudio, quer durch alle sozialen Schichten. Wo führt das hin?

Fraberger: Der ganze Körperkult ist nicht nur schlecht. Aber die Leute leben diesen Körperkult nur die paar Minuten am Strand, den Rest des Tages vergessen sie ihn. Ich glaube, das alles ist auch ein Ausgleich zur mangelnden körperlichen Kommunikation durch das Handy. Alles läuft nur über Worte. Vielleicht schickt man noch Fotos, aber es ist keine körperliche Nähe da. Ich habe Männer und Frauen in meiner Praxis, die erzählen, dass sie Sex am Computer haben, aber noch nie mit jemandem körperlich zusammen waren. Dafür gehen sie aber ins Studio und schauen genau darauf, wie sie ausschauen. Da ist die Behinderung fast ein Vorteil, weil sie so viel Körperlichkeit braucht.

STANDARD: Mit welchen seelischen Problemen kommen Menschen zu Ihnen?

Fraberger: Diejenigen, die zum Psychologen kommen, sind eher die Opfer einer Gesellschaft und weniger die Täter. Für sie ist es wichtig zu lernen, wie man Beziehungen liebevoll gestaltet, wie man lernt, Ja oder Nein zu sagen. Es kommen Frauen, die Probleme mit bestimmten Körperteilen haben, die einen Teil als so massiv störend wahrnehmen, dass es die gesamte Beziehungsfähigkeit beeinträchtigt.

STANDARD: Woher kommen solche Störungen?

Fraberger: Ich würde sagen, aus mangelnder Zeit, die mit diesen Kindern verbracht wurde, und mangelnder Körperlichkeit, weil Eltern zum Beispiel nur gearbeitet haben. Das passiert unabhängig von der sozialen Schicht.

STANDARD: Ihre Eltern haben es geschafft, Ihre Behinderung nicht als großes Problem zu sehen, sie "haben gar nicht verstanden, wie man mich nicht mögen kann". Gab es auch Rückschläge, Menschen, die Sie nicht mochten?

Fraberger: Sicher. Die Liebe zum Beispiel hat mich immer auch an den Rand der Verzweiflung gebracht. Als Jugendlicher war ich verliebt, und meine Mitschülerin hat gesagt: Schau Georg, schön wärst du eh, aber leider bist du behindert. Das hat mich getroffen, keine Frage. Meine Behinderung habe ich zu Hause schon viel diskutiert. Was mich als Jugendlicher fast noch mehr gestört hat, war, dass ich keine Bauchmuskeln habe. Ich dachte, hätte ich Bauchmuskeln, wäre ich trotzdem schön. (lacht)

STANDARD: Ist die Behinderung ein Thema für Ihre Familie und Kinder?

Fraberger: Klar, aber meine Kinder finden einen guten Umgang damit. Wenn andere Kinder nicht wissen, was eine Prothese ist, dann sagen sie: "Na, die Roboterhand vom Papa!" Die finden Begriffe, die sozial akzeptiert sind. Mir wäre der Begriff niemals eingefallen. Mein Rollstuhl ist dann "wie ein Segway".

STANDARD: Woher kommen Ihr Lebenssinn und Freude?

Fraberger: Der Sinn besteht darin, dass man erkannt wird als der, der man ist. Auch wenn ich mich manchmal nicht so verhalte, wie ich möchte, der mag mich trotzdem. Sinn finden wir aber auch in der Wissenschaft, deswegen arbeiten sich viele auf diesem Feld auch zu Tode, weil sie sagen können: Das ist sinnvoll, was ich tue. In der Kunst und im Sport ist das genauso. Es geht um das Erkennen.

STANDARD: Sie haben Sinn in Ihrer Arbeit gefunden. Laufen Sie Gefahr, zu viel zu arbeiten?

Fraberger: Wenn man in einem Spital arbeitet, so wie ich als Psychologe an der Orthopädie am Wiener AKH, dann kann man nie genug da sein. Da erlebe ich mich teilweise auch als Mangel. Als ich 2002 anfing, gab es nur zehn Psychologen am AKH, mittlerweile sind wir über 70.

STANDARD: Sie selbst haben Ihre Frau im Internet kennengelernt. Wie sehen Sie den Umgang der Menschen mit der neuen Technik?

Fraberger: Das Internet bietet eine Fluchtmöglichkeit, mit der man Einsamkeit scheinbar überwindet. Es traut sich heute kaum jemand mehr, allein zu sein. Es ist als Jugendlicher schwierig, das zu lernen. Aber ich glaube, dass Leiden bildet. Wenn man es gar nicht schafft, für sich allein zu sein, zu sich und seiner Meinung zu stehen, sondern immer nur Menschen in sozialen Medien findet, die dieselbe Meinung haben, fehlt ein gewisses Maß an Bildung.

STANDARD: Sie machen vielen Menschen Mut. Haben Sie selbst in schweren Zeiten psychologische Hilfestellungen gehabt?

Fraberger: Ich hoffe, dass ich anderen Mut mache, und selbstverständlich habe ich Kollegen, die mir ein Vorbild sind. Die suche ich immer noch auf. Im Spital in Heidelberg, wo ich so gut wie jeden Sommer von meinem dritten bis zu meinem 20. Lebensjahr operiert wurde, war psychologische Unterstützung selbstverständlich. Meine Mutter oder meine Oma waren manchmal eine Woche zu Besuch. Auch wenn es Kindern wehtut, allein zu bleiben, tut es ihnen auch gut. Es war eine gute Übung, in der Welt zu bestehen. Zu vielen habe ich heute noch Kontakt. Der Arzt, der mich über all die Jahre behandelt hat, ist letztes Jahr verstorben. Bis zu seinem Tod habe ich ihn immer wieder besucht.

STANDARD: Von Beziehungen erwarten wir, dass sie bis zum Tod halten. Wenn sie scheitern, ist das oft ein Auslöser für eine Krise. Sie selbst sind auch geschieden. Hat eine Beziehung nicht mehr mit einem selbst als mit dem anderen zu tun?

Fraberger: Gewiss. Meine Erfahrung ist: Wenn man sich das Scheitern nicht eingesteht, meldet sich ohnehin der Körper. Ich habe begonnen zu somatisieren. Ich habe es nur bemerkt, weil ich seit dem Tag meiner Scheidung schmerzfrei bin. Ich hatte enorme Rückenschmerzen. Aber ich kann umgekehrt nicht davon ausgehen, dass, wenn jemand mit Rückenschmerzen zu mir kommt, seine Beziehung schlecht ist. Da muss man aufpassen.

STANDARD: Ihr letztes Buch "Ich verstehe dich" beschäftigt sich viel mit Kommunikation in Beziehungen. Kann man richtiges Kommunizieren lernen?

Fraberger: Ja, indem man viel mehr auf seinen Körper achtet. Alle Kommunikationsmodelle beschränken sich auf das Wort und vielleicht noch auf die Interpretation der Körpersprache. Die sagen alle, wie man dastehen muss, aber nicht, wie du dich dabei fühlen musst. Aber wenn man sich anderen gegenüber ängstlich fühlt, dann ist das wie eine Einladung zur Kränkung. Denn keiner mag die Angst. Das wird leider oft übersehen. Der Hund, der die Angst spürt, der muss ja bellen oder sogar beißen. Wenn ich aber lerne, zu meiner Angst zu stehen, dann wirke ich wieder sicher. So einfach.

STANDARD: In Ihrem neuen Buch "Wie werde ich Ich" geht es darum, auf die eigenen Bedürfnisse zu achten, sie überhaupt erst zu erkennen.

Fraberger: Genau. Wo verstelle ich mich? Wann verstelle ich mich? Wenn man sich für die Liebe des Partners oder im Büro verstellen muss, glaube ich, macht das auf Dauer krank.

STANDARD: Wie sind Sie Sie geworden?

Fraberger: Die wichtigste Sache für mich war, dass ich aufhöre, mich für mich zu genieren. Dass ich aufhöre, mich kleiner zu machen, aber auch, mich groß zu machen. Ich muss mich heute für niemanden verstellen. Man muss zu sich stehen lernen. In England, wo ich ein Jahr gelebt habe, geht man viel selbstverständlicher mit Behinderung um. Ich hatte damals Angst, nach Österreich zurückzukommen. Solange ich diese Angst ausgestrahlt habe, haben mich Patienten auch tatsächlich gefragt: Wohnen Sie im Keller? Was tun Sie Armer denn zu Weihnachten? Als ich begonnen habe, diese Angst abzulegen, hat das aufgehört.

STANDARD: Träumen Sie manchmal davon, einen normalen Körper zu haben?

Fraberger: Mit Mitte 20 habe ich mich immer wieder mit Händen und Füßen geträumt. Das war am Anfang sehr irritierend, dann wurde es selbstverständlich und war sehr schön. Aber heute träume ich mich so, wie ich bin. Ich empfinde die Behinderung mittlerweile wirklich fast als Vorteil. Auch mit meiner Frau. Die Behinderung bringt so viel mehr Nähe. Selbst wenn ich nur eine Hand hätte, wäre diese Herznähe weniger vorhanden, als sie jetzt ist. Auch die Kinder, die sind alle gleich viel näher. (lacht) Auch wenn das manchmal ganz schön heiß werden kann. (Mia Eidlhuber, CURE, 31.8.2017)