Zu Billy Talent waren viele mangels Alternativen erschienen. Die Band wirkt ideenlos.

Foto: Herbert P. Oczeret

Das Berliner Techno-Trio Moderat wusste mit einer düsteren Licht- und Videoshow zu faszinieren.

Foto: Herbert P. Oczeret

St. Pölten – Dass das Frequency-Festival erstmals mitten unter der Woche von Dienstag bis Donnerstag stattfindet und trotzdem mehr als 100.000 Besucher erwarten darf, hängt in erster Linie damit zusammen, dass "Arbeit" für die Allermeisten hier noch mit "Hausübung abschreiben in der großen Pause" übersetzt werden kann. Das geht dann nämlich erst in gut drei Wochen wieder los. Für den rar gesäten werktätigen Besucher ergibt sich durch den neuen Termin immerhin die Chance, übers Wochenende die eine oder andere posttraumatische Belastungsstörung wieder wegzubekommen.

Noch bis Donnerstag ist St. Pölten Festivalhauptstadt. In der 50.000-Einwohner-Stadt werden bis zu 140.000 Besucher beim FM4-Frequency-Festival erwartet. Ein Besucherstrom, der auch für Anrainer spürbar ist.
ORF

"Post" ist auch das Stichwort, mit dem sich der dienstägliche Festivalstart zusammenfassen lässt. Egal ob vor oder auf der Bühne, so wirklich im Jetzt war da niemand. Auch abseits des Musikalischen trifft man auf Trends, bei denen nicht mehr ganz klar ist, ob man sich entwicklungstechnisch nun eher nach vorn oder zurück bewegt. Kulinarisch überzeugen will man diesmal jene, die wahlweise Überlebensprofi Bear Grylls im einschlägigen Männerfernsehen, das Dschungelcamp oder Foodblogs mit revolutionärem Anstrich verfolgen und immer schon einmal wissen wollten, welches Dip man zum freilich mit viel Protein gesegneten Heuschreck servieren soll.

Zarte Veränderungen in der Konsumkultur machen sich auch hinsichtlich der Einstellung zum Digitalen bemerkbar: Das Smartphone bleibt öfter in der Tasche, der analoge Einwegfotoapparat feiert sein Comeback. Das verspricht Überraschungen nach der Sause und hat haptisch einfach entschieden mehr Sex. Digital zurückgefeuert wird dafür bühnentechnisch. Eine 180-Grad-LED-Leinwand umrahmt neuerdings die große Space-Stage. Dumm nur, dass darauf nicht etwa das Bühnengeschehen aus verschiedenen Blickwinkeln gezeigt wird, sondern zumeist uninspirierte Bildschirmschoner-Visuals unnötig die Energierechnung hochtreiben.

Rap aus Salzburg, Blues aus Kalifornien

Gespart hat man sich am ersten Tag wiederum die zweite Großbühne. Die kleinere, optisch undankbare, aber meist gut programmierte Indoor-Weekender-Stage musste als Beiwagerl reichen. Der britische Singer-Songwriter Charlie Cunningham eröffnete diese mit seiner interessanten Art, angesagten amerikanischen Folkpop mit Flamenco-Gitarrenspiel zu verschmelzen. Sphärischer Bass kommt dabei aus dem Keyboard, der Drummer wischt gelegentliche Glanzpunkte hin und kann dazwischen über seinem Bier sinnieren. Das klingt gut und gern verschlafen, in doppelter Geschwindigkeit als "Doubletime-Rhyme" lotet Cunningham aber auch die Grenze zum Rap aus.

Eben diesen durfte der Salzburger Dame nach erfolgreichem Testlauf auf der Weekender-Stage im vorigen Jahr diesmal auf der Hauptbühne unters Youtube-Volk streuen und ließ auch dort nichts anbrennen. Steil nach oben geht es mit der jungen Band Van Holzen aus Ulm. Gerade erst volljährig werdend, schöpft das Trio bereits aus einem Erfahrungsschatz hunderter Auftritte und hat sich zum Ziel gesetzt, mehr Härte in den deutschen Mainstreamrock zurückzubringen. Auf sympathische Art rückwärtsgewandt gibt sich auch das Bluesrockduo Little Hurricane aus Kalifornien, das sich einen passenderen Rahmen für sein Konzert verdient gehabt hätte. Anthony Catalano singt und spielt die Gitarre in allen Lagen. Am Schlagzeug ergänzt ihn die bezaubernde Celeste Spina, die trotz Schwangerschaft mit viel Wums zu Werke ging.

Verlorene Fankulturen und Technomesse

Als eher ernüchternd erwies sich der Wiederbelebungsversuch der einflussreichen Neunzigerjahre-Hardcoreband At the Drive-in. Von Fans wie Kritikern einst als zukunftsweisende Innovatoren im härteren Rockgeschäft geadelt, zerstreuten sich die Bandmitglieder 2001 in verschiedene teilweise ebenfalls erfolgreiche Projekte. Nach 17 Jahren erschien nun das Comebackalbum "In-ter a-li-a", mit dem nahtlos an frühere Soundkonzepte angeschlossen wurde. Am Frequency wurde nun deutlich, wie schwer es sein kann, die verlorene Fanbasis auf Knopfdruck wiederzubekommen. Die musikalisch wie inhaltlich völlig ideenlosen und nunmehr bereits schlageresk anmutenden Billy Talent, offenbarten gleichfalls, dass mit der früher treu ergebenen Emo-Jugendkultur definitiv nicht mehr zu rechnen ist.

Tiefschwarzes, allerdings nicht aus der Emo-, sondern Techno-Ecke, gab es zum Abschluss mit dem Berliner Kollektiv Moderat. Nach drei Alben, zuletzt "Live" (2016), soll ab September eine längere kreative Pause folgen. Am Frequency-Festival wussten die drei als Apparat und Duo Modeselektor auch anderweitig gut beschäftigten DJs mit einer Licht- und Videoshow aufzuwarten, die so auch auf jeder Kunstbiennale reüssieren würde: Mit viel Liebe zur Geometrie und zur Nebelmaschine wurden konstruktivistische Raster, Lichtsäulen und Mondkrater auf die Bühne gezaubert. Das technoid-sakrale Gesamtkunstwerk kulminierte schließlich in einem Close-up der Hände von Michelangelos "Erschaffung des Adam". (Stefan Weiss, 16.8.2017)