Eine diskriminierungsfreie Gesellschaft wird auch der Feminismus nicht schaffen können.

Das Bild zeigt die Ausstellung "Weight and lightness. Latin American photography between humanism and violence", die 2012 im Cervantes Institut in Rio de Janeiro zu sehen war.

Foto: APA/MARCELO SAYAO

Warum? Immer wieder: Warum? Seit ich mich mit Feminismus als sozialer Bewegung, politischer Theorie und, ja, von mir aus auch Ideologie beschäftige, verfolgt mich diese eine Frage: Warum machst du das? Flankiert wird diese Frage dabei oft von der Bemerkung, dass Gleichberechtigung "und so" ja schön und gut sei, ich doch aber mit meinen Forderungen viel besser beim Humanismus aufgehoben sei. Der umfasse schließlich alle Menschen und beziehe die Rechte von Frauen folglich mit ein.

Überhaupt Frauen! Mit meinem Interesse an Geschlechtergerechtigkeit und Diskriminierungsfreiheit sei ich doch beim Feminismus nicht besonders gut aufgehoben, weil der ja schließlich, und wer wüsste das nicht, nur die Vorherrschaft des einen Geschlechts durch die des anderen ersetzen wolle.

So weit, so konjunktivisch. Und es ist ja auch nicht so, dass ich für diese Möglichkeit nicht anfällig bin. Sich mit einzelnen Diskriminierungsformen und ihren Zusammenhängen zu beschäftigen ist einfach furchtbar anstrengend. Wo Mann es gerade so privilegiert gemütlich hatte. Das klingt doch nach einer guten Idee: Wenn es wirklich um Gleichberechtigung und nicht um die Ablösung einer geschlechtszentrierten Herrschaftsform durch eine andere geht, wieso nennen wir das dann nicht Humanismus? Ist es aber nicht. Es ist eine Abkürzung, eine Pauschalisierung, eine Vereinnahmung.

Humanistische Generalisierung

Ein Grund dafür ist, wie meine Kollegin Katrin Rönicke in ihrem Podcast ausführt, die Geschichte. Feminismus beinhaltet auch die Sichtbarmachung und (Wieder-)Entdeckung der Beteiligungen und Leistungen von Frauen in Bezug auf historische Prozesse. Dies mit einer humanistischen Generalisierung wieder zu überdecken wäre nicht nur unfair, sondern auch fahrlässig. So geriete das Verständnis von uns als Gesellschaft und als Individuen noch unvollständiger und fehlerhafter, als es sowieso schon ist.

Ein anderer ist das, was ich den humanistischen Fehlschluss nennen möchte. Humanismus produziert keine diskriminierungsfreien Gesellschaften, er postuliert sie nur. Humanismus gibt die großartige Maxime aus, dass die Würde des Menschen unantastbar ist, bleibt aber die Antwort darauf schuldig, wie wir damit umgehen sollen, wenn sie angetastet wird. Und das wird sie, wieder und wieder. Jeden Tag, jede Stunde, jede Minute. Insbesondere die von Frauen und Minderheiten.

Der Philosoph Immanuel Kant gibt ein gutes Beispiel für diesen humanistischen Fehlschluss ab. Denn die Fähigkeit, den kategorischen Imperativ zu entwickeln, schützte ihn offenbar nicht davor, zugleich einem dumpfen, ungemein kurzsichtigen Rassismus zu frönen: "Die Menschheit ist in ihrer größten Vollkommenheit in der Rasse der Weißen. Die gelben Indianer haben schon ein geringeres Talent. Die Neger sind weit tiefer, und am tiefsten steht ein Teil der amerikanischen Völkerschaften. […] Die Neger von Afrika haben von der Natur kein Gefühl, welches über das Läppische stiege."

Feminismus, um das an dieser Stelle klar zu sagen, führt übrigens auch nicht zu einer diskriminierungsfreien Gesellschaft. Das ist gar nicht möglich. Selbst eine Gesellschaft, die nach dem Gedankenexperiment eines anderen Philosophen, John Rawls, von Menschen erdacht würde, die mit einem beliebigen, nicht planbaren sozialen Status in ebenjener Gesellschaft leben müssten, wäre in dieser Hinsicht nicht perfekt. Selbst wenn so alle bekannten Diskriminierungsformen ausgeschlossen würden, weil sie in der schönen neuen Welt auch einen selbst betreffen könnten, gäbe es immer noch die unbekannten. Dann wären es eben zu Ohrenschmalz neigende Novembergeborene mit üppigem Nasenhaar, die wir aus Eigennutz oder Ignoranz diskriminieren würden. Irgendwas fällt uns immer ein.

Die eine große Geste reicht nicht

Wir wollen uns anderen gegenüber in den Vorteil setzen und sie zu diesem Zweck diskriminieren. Wir behalten uns vor, die Würde anderer anzutasten. Und genau dagegen ist insbesondere der intersektionelle Feminismus mit seinem Augenmerk auf Diskriminierungsschnittmengen und Machtdispositive ein sehr brauchbares Mittel.

Diskriminierung lässt sich nicht mit der einen großen Geste ein für alle Mal erledigen. Dafür ist sie viel zu sehr ein Teil von uns allen. Selbst die beste aller möglichen Gesellschaften hat Diskriminierung nicht etwa vollständig beseitigt, sondern weiß vielmehr um ihre Fehl- und Verführbarkeit und hält so gut wie möglich dagegen. Zum Beispiel mit Feminismus. Denn es hat noch nie ausgereicht, Dinge und Verhältnisse nur für verbessert, gerechter oder beendet zu erklären. (Nils Pickert, 27.8.2017)