Julián Santana Barrera fand das tote Mädchen an einem Tag im Jahr 1951. Es lag am Ufer eines der Kanäle, die rund um die winzige Insel fließen. Das Kind lag noch halb im Wasser, mit geöffnetem Haar. Sanfte Wellen umspülten den kleinen, leblosen Körper und die Augen des Mädchens starrten leer in den Himmel. Julián geriet in Panik, keine Menschenseele weit und breit, die ihm beistehen konnte. Jede Hilfe kam zu spät, das Mädchen war nicht mehr am Leben. Er konnte nur noch versuchen, den Geist des toten Kindes zu besänftigen.

So beginnt die Geschichte der Puppeninsel – Isla de las Muñecas – am Rande von Mexico City. Das Mädchen saß von diesem Tag an in seinem Kopf fest, ergriff von ihm Besitz. Barrera verließ seine Frau und die Familie, lebte fortan auf der Insel, 28 Kilometer von der Stadtmitte entfernt, und sah ab nun seine einzige Aufgabe darin, die verlorene Seele des ertrunkenen Mädchens zu retten. Bis zu seinem Tod im Jahr 2001 blieb Julián, ein einfacher Blumenzüchter und Fischer, der einzige Bewohner der kleinen Insel im Naturschutzgebiet Xochimilco. All die Jahrzehnte lebte er hier wie ein Einsiedler, verfolgt vom Geist des Mädchens, der ihm den Schlaf raubte und ihn beinahe in den Wahnsinn trieb.

Die Puppen in den Bäumen

Eines Tages schwemmte der Kanal eine alte kaputte Puppe an und Julián hängte sie in einen der Bäume. Vielleicht ließe sich damit der Geist des Mädchens beruhigen, vielleicht würde das kleine tote Mädchen durch dieses Geschenk endlich ihren Frieden finden. Doch seine Hoffnung sollte sich nicht erfüllen. Die toten Augen der Kleinen erschienen ihm weiter im Traum, Nacht für Nacht, quälten ihn, machten auch seine Tage unerträglich. Was hatte er bloß falsch gemacht?

Eine Puppe war zu wenig. Bestimmt. Mehr Puppen, es mussten mehr Puppen an die Bäume und Sträucher gehängt werden, die ganze Insel sollten sie bevölkern. Wenn das tote Mädchen nur genügend Puppen zum Spielen bekäme, dann, ja dann würde es endlich frei sein und seinen letzten Gang ins Jenseits antreten, das Erdendasein hinter sich lassen können.

Foto: flickr/Esparta Palma [cc;2.0;by]

Und so geschah es. Barrera fand weitere Puppen, die die Kanäle rund um die Insel, die den Abfall der großen Stadt mit sich führten, angeschwemmt hatten. Alle band er an Bäumen auf der Insel fest, hängte sie zwischen die Äste. Über die Jahre entstand so ein öffentlicher Puppenfriedhof. An die 1000 weggeworfene Puppen, teilweise ohne Augen, mit fehlenden Gliedmaßen, auch Köpfe ohne Körper, alle hängte er bis zu seinem Tod in die Bäume, drapierte sie in Sträuchern, nagelte sie an die Wände seiner Hütte.

Die Spielzeugpuppen tänzeln seither im Wind, ausgebleicht von der sengenden Sonne, Wind und Wetter ausgesetzt, von Spinnweben überzogen. Wie lebendig schaukeln sie zwischen den Ästen und erinnern dabei doch gespenstisch an mumifizierte Kleinkinder. Ein albtraumhafter Ort, der aber jedes Jahr tausende Touristen anzieht.

Ankunft auf der Puppeninsel
Foto: flickr/Cordelia Persen [cc;2.0;by]
Foto: flickr/kevin53 [cc;2.0;by]
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Auch in den alten Hütten stapeln sich die Puppen.
Foto: flickr/kevin53 [cc;2.0;by]
Elle Patille

Wer war das tote Mädchen?

Das tote Mädchen wurde nie gefunden. Es ist wohl davon auszugehen, dass Julián das kleine Kind bloß imaginiert hatte und zeitlebens in seiner eigenen Illusion gefangen blieb. Der Mann der Puppen, Julián Santana Barrera, starb im Jahr 2001. Er ertrank an derselben Stelle der Insel wie das Mädchen, das er genau 50 Jahre zuvor gesehen zu haben glaubte. Manche meinen er erlag einem Herzinfarkt, andere gehen davon aus, dass er betrunken ins Wasser gefallen war. Vielleicht hat ihn aber letztendlich doch der Geist des kleinen Mädchens zu sich geholt. Wer weiß? (Kurt Tutschek, 30.8.2017)

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