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Kreative Geldsuche in Stuttgart. In Europa wird der Erfolg der deutschen Wirtschaft mal anerkennend, mal kritisch kommentiert. Die Entwicklung der vergangenen Jahre hat aber auch ihre Schattenseiten.

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Wien – Der deutsche Wirtschaftsboom der vergangenen Jahre sorgt regelmäßig für triumphale Schlagzeilen. Konjunkturlokomotive, Exportweltmeister, Wohlstandsmaschine: Kaum ein Superlativ fehlt in den Beschreibungen. Doch eine am Montag veröffentlichte Studie von Ökonomen am Mannheimer Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) wirft ein trübes Licht auf die Entwicklung.

Das Armutsrisiko und die Einkommensungleichheit sind demnach seit der Wiedervereinigung massiv angestiegen. Menschen, die einmal in die Armut rutschen, kommen zudem heute schwerer aus ihrer misslichen Lage heraus. Die Ergebnisse der Untersuchung dürften auch Thema im laufenden deutschen Wahlkampf werden.

Daten seit den späten 1950er-Jahren

Die ZEW-Wissenschafter wollten herausfinden, wie gut die soziale Marktwirtschaft in der Bundesrepublik funktioniert. Sie haben deshalb Daten seit den späten 1950er-Jahren zusammengetragen. Sorgen bereitet den Ökonomen dabei vor allem die Entwicklung seit den frühen 1990er-Jahren. Die überwiegende Zahl der Deutschen profitiert zwar weiterhin vom steigenden Wohlstand wie in den Jahrzehnten davor. Doch der Zuwachs ist immer ungleicher verteilt: Die zehn bis 15 Prozent der Bestverdiener haben überproportional dazugewonnen. Ihr Einkommen ist seit 1991 pro Jahr um mehr als 1,3 Prozent gestiegen.

Die Steigerung des verfügbaren Einkommens beim Rest der Bevölkerung lag dagegen im Schnitt bei nur 0,6 Prozent im Jahr. Die fünf Prozent der untersten Einkommensbezieher haben sogar Lohnverluste hinnehmen müssen. Fazit: "Seit der Wiedervereinigung haben die Einkommen der unteren 40 Prozent durchgehend unterdurchschnittlich am Gesamtwachstum partizipiert."

Sozialtransfers

Analysiert wurden im Zuge der Studie die verfügbaren Haushaltseinkommen inklusive Sozialtransfers. Mit einem statistischen Verfahren wurde korrigiert, dass in Haushalten unterschiedlich viele Personen leben. Primär haben sich die Autoren auf Zahlen aus einer jährlichen Befragung von 12.000 Haushalten gestützt.

Interessant ist, dass die Wirkung des Wohlfahrtsstaates unverändert ist: Sozialtransfers reduzieren die Einkommensungleichheit, die in der Privatwirtschaft vorherrscht, heute ebenso stark wie vor 20 oder 30 Jahren, nämlich um gut 50 Prozent. Allerdings klaffen die Privateinkommen heute stärker auseinander als in der Vergangenheit, was dazu führt, dass die Schere zwischen Spitzenverdienern und dem Rest insgesamt aufgeht. Die Kluft hat aber auch in der Vermögensverteilung zugelegt. Der Vermögensanteil der oberen zehn Prozent ist seit 1993 von etwa 45 auf 52 Prozent gestiegen, während der Anteil der unteren 50 Prozent am Gesamtvermögen von 4,1 auf ein Prozent gesunken ist.

Länger arm

Interessant ist auch die Entwicklung der Armut, wobei als arm Personen gelten, die weniger als 60 Prozent des Medianeinkommens verdienen. Nach der Wiedervereinigung ist zunächst die Armut in Ostdeutschland recht markant zurückgegangen. Allerdings nahm dieser Trend laut Studienautoren um die Jahrtausendwende ein Ende – seither ist eine "Aufwärtsbewegung" festzustellen. 20,9 Prozent der erwachsenen Personen in Ostdeutschland und 14,2 Prozent der Erwachsenen in Westdeutschland leben unter der Armutsschwelle. Seit den Arbeitsmarktreformen der rot-grünen Regierung (Agenda 2010) hat die Zeit, die Menschen im Schnitt in Armut verbringen, etwas zugenommen.

Chancengleichheit intakt

Die Autoren der Studie, die im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung erstellt wurde, versuchen Gründe für die wachsende Lohnschere zu finden. Sie analysieren eine Reihe von externen Faktoren wie Geschlecht, Bildungsabschluss, Job der Eltern, Wohnort, Herkunft. Diese Variablen kann der Einzelne nicht oder kaum beeinflussen – wie stark sie wirken, sagt etwas darüber aus, wie es um die Chancengleichheit in Deutschland bestellt ist. Doch nur 13 Prozent der Einkommensungleichheit sind mit diesen Variablen erklärbar, die Chancengleichheit ist also recht hoch.

"Die Ungleichheit steigt, aber es liegt nicht an externen Faktoren wie etwa daran, dass die Eltern schon über einen guten Bildungsabschluss verfügt haben", sagt Martin Ungerer, einer der Studien-Co-Autoren. Ob es andere persönliche Faktoren gibt, die entscheidend sind, etwa psychologische, wurde nicht untersucht. Das interessante Ergebnis der Analyse aus Sicht Ungerers ist, dass das starke deutsche Wirtschaftswachstum der vergangenen Jahre und selbst die niedrige Arbeitslosigkeit nicht allen Bevölkerungsschichten zugutegekommen sind. (András Szigetvari, 29.8.2017)