Dinge, Orte, Leute, Territorien zu markieren ist eine uralte menschliche Tätigkeit. Wir feiern die Daten: die größte Pizza, das tiefste Tal, die Stadt mit den meisten Flamingos per Quadratmeter. Die Leistung bei der Besteigung des höchsten Bergs eines Landes ist nachvollziehbar, aber im Internet finden sich zum Beispiel unzählige sinnfreie Bilder von Menschen mit Riesenkürbissen – als könnten erstere irgendetwas für letztere.

Wir Menschen markieren Erreichtes mit Sternen, mit Fahnen, mit Monumenten, mit einem einzeiligen Eintrag im Guinness Buch der Rekorde. Und dann bedienen wir uns dieses Datenmaterials, um unsere Tischgespräche aufzupimpen. Alle wollen doch eine gute Anekdote über jenen Mann hören, der fünfzig Würste in einer Minute verschlang.

Isabella-Nora Händler im Mittelpunkt Niederösterreichs bei Kapelln.
Foto: toxic dreams / Peter Stamer

Was hat das nun alles mit uns und unserem Theaterprojekt zu tun? Auch wir setzen unsere Markierungen. Wir fahren von einem Bundesland zum nächsten und besuchen den jeweiligen geografischen Mittelpunkt. Die meisten Bundesländer weisen ihren geografischen Mittelpunkt mehr oder weniger gelungen aus. Es ist eine sinnlose Praxis, aber gut, warum nicht.

Bei diesen Mittelpunkten angekommen, vollführen wir eine Art Landungsritual, machen ein paar Fotos, um beweisen zu können, dass wir da waren. Und dann fahren wir zum nächsten. Wenn wir diese Bilder schließlich ins Netz stellen, unterscheiden wir uns also in keinster Weise von den vielen Männern, die ein Bild von sich und dem größten, je gefangenen Fisch posten. Und eines Tages vielleicht, nicht allzu weit in der Zukunft, werden sie sich hervorragend für ein gepflegtes Tischgespräch eignen.

Das Dorf der Dichter

Wer in diesen Wochen vor der Nationalratswahl durch das Land fährt, dessen Blick fällt unweigerlich auf die diversen Wahlplakate. Auf unserem Schiff mangelt es nicht an kalauernden Wortspielen ("Warum musste die 'Pequod' untergehen?" – "Weil Käpt'n Ahab sein Walversprechen nicht halten konnte."), aber ein Zwischenstopp im niederösterreichischen Kirchstetten hat die Plakate für uns mit einer tieferen Geschichte verbunden.

Der britisch-amerikanische Dichter W.H. Auden war stolz auf sein erstes Eigenheim, als er 1957 Hausbesitzer in Kirchstetten wurde. Viele Sommer verbrachte er bis zu seinem Tod 1973 dort und am alten Friedhof direkt an der Kirche findet sich sein Grab. Wir haben ihm einen Besuch abgestattet, weil Auden auch ein Gedicht über Herman Melville verfasst hatte.

toxic dreams am Grab von W.H. Auden in Kirchstetten
Foto: toxic dreams / Michael Strohmann

Mitte der 1960er-Jahre schrieb Auden – aus seinem Arbeitszimmer in das ländliche Niederösterreich blickend – in einem Text mit dem Titel "The Cave of Making":

More than ever
life-out-there is goodly, miraculous, loveable
but we shan’t, not since Stalin and Hitler
trust ourselves ever again: we know that, subjectively
all is possible.

Geheimgehaltene Zonen

Landschaft ist nicht unschuldig, scheint er zu sagen. Immer ist sie Trägerin von Geschichte(n), Ergebnis menschlichen Handelns. Was bedeuten die großen totalitären Übel des 20. Jahrhunderts noch, wenn wir im 21. durch das Land fahren? Erinnern wir uns daran, dass, subjektiv, alles möglich ist; das heißt auch: dass in jedem einzelnen Subjekt das Potenzial für dieses Böse angelegt ist? An welche unserer menschlichen Eigenschaften appellieren die Wahlplakate, die in dieser Landschaft stehen?

Kirchstetten beansprucht für sich den Titel "Dorf der Dichter". Denn vor Auden hatte dort schon Josef Weinheber mit seiner Frau ein Haus bezogen. Wie Auden ist auch er hier begraben und ist ihm ein kleines Museum gewidmet. Die beiden sind einander nicht begegnet, aber Auden imaginiert in einem auf den weltanschaulich heftig umstrittenen Kollegen verfassten Gedicht eine mögliche Bekanntschaft. Er findet versöhnliche Worte, ist aber auch hier deutlich genug:

Kein Mensch ist, soweit wir wissen,
Jemals sicher gewesen,
Drum hüten brave Familienväter
In geheimgehaltenen Zonen
Mit der Hingebung von Mönchen
Apparaturen,
In denen harmlose Materie
Mörderisch wird.

Diese geheimgehaltenen Zonen, sie scheinen uns mit dem weißen Wal in Verbindung zu stehen. Wir sind weiterhin auf der Jagd, um Blicke in sie zu erhaschen. (Yosi Wanunu, Markus Zett, 1.9.2017)

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