
On duty: Lee Brilleaux (kniend) und Wilko Johnson 1976.
Wien – In der Landschaft der Themse-Mündung zeigt die Grafschaft Essex zumeist ihr bewölktes Gesicht. Wird der Himmel doch noch einmal klar, besitzt er eine ungesunde Hautfarbe. Auf Canvey Island, eine Autostunde östlich von London, wurde dem britischen Rock 'n' Roll in den frühen 1970er-Jahren eine dringend notwendige Diät verordnet. Mit der Entstehung des sogenannten Pubrock erinnerten Bands wie Dr. Feelgood ihre progressiven Kollegen daran, was es mit dem Auffrisieren alter Bluesriffs auf sich hat.
Lee Brilleaux, der Sänger von Dr. Feelgood, erzählte nicht von Elfen und Einhörnern, er brüllte eher wie ein angestochener Stier. Sein Ehrgeiz bestand darin, der Blueslegende Howlin' Wolf nachzueifern. Die Mundharmonika verschwand irgendwo in der Hand dieses Riesen. Wolf sang mit eindrucksvoll derber Stimme über böse Frauen und Männer. Brilleaux spickte sich alles Wesentliche von ihm ab und kultivierte das Image des harten Kerls mit weichem Kern.
Wohltuende Monotonie
Dr. Feelgood gründete er 1972 gemeinsam mit Gitarrist Wilko Johnson. Ein dürrer Lehrer, der mit ausdrucksloser Miene beim Saitenschlagen in spastische Zuckungen verfiel. Und während zur selben Zeit der Glamrock sexuelle Identitäten auflöste, rüpelten sich Dr. Feelgood als gestandener Männerverein durch ein bemerkenswert stilechtes Repertoire.
Das erste Dr.-Feelgood-Album Down by the Jetty, erschienen 1975, war allen Ernstes mono aufgenommen. Es dauerte schlanke 37 Minuten, war also kürzer als ein Schlagzeugsolo von John Bonham. Nummern wie She Does It Right oder Roxette glichen in ihrer wohltuenden Monotonie Abführtabletten. Bands wie Dr. Feelgood machten wirksam Schluss mit Orgelkadenzen und anderen Unarten klassisch erzogener Prog-Rocker. Ihr 20-jähriges Schaffen ist nunmehr auf dem Box-Set Lee Brilleaux – Rock 'n' Roll Gentleman. His Musical Journey with Dr. Feelgood 1974-1994 mit 93 Songs üppig dokumentiert.
Im Licht der allmählich verblassenden britischen Arbeiterkultur nahmen Kumpel wie Nick Lowe (Brinsley Schwarz) Maß an US-amerikanischen Musikerzählweisen. An The Band und deren Fake-Ästhetik aus der Zeit des Sezessionskrieges. Pubrocker waren Ehrenmänner, die als Hobbys Bier, Whiskey und Gin anführten und die ihre Live-Locations nach Maßgabe der umliegenden Kneipen auswählten. Sie waren Schandmäuler, und im Falle des genialen Ian Dury verstand man als Nichtlondoner kein einziges Cockney-Wort.
Der stilechteste Pubrocker von allen
Lee Brilleaux war der brillanteste, weil stilechteste Pubrocker von allen. Er sah bereits als Mittzwanziger aus wie ein verlebter 48-jähriger Nachtclubbesitzer. Er warf Wilko Johnson bald aus der Band (man besaß verschiedene Auffassungen vom Nightlife) und konkurrierte mit noch schärferer, noch härterer Musik mit der aus dem Großstadtboden schießenden Punkbewegung. Pubrock schien das kurze, notwendige Atemholen, bevor die Kinder englischer Sozialhilfeempfänger sich endlich Nadeln durch die Wangen stechen konnten.
Waren Dr. Feelgood später weniger inspiriert, so klangen sie noch immer tausendmal besser als die Boogierocker von Status Quo. Der Zeitgeist wandte sich irgendwann schnöde von ihnen ab, aber Zunftsgenossen wie Mickey Jupp, Dave Edmunds oder Graham Parker erging es nicht wirklich besser. Lee Brilleaux bellte und blies buchstäblich bis zuletzt, ehe ihn 1994 ein Lymphkrebs besiegte. "The blues had a baby, and they named it rock 'n' roll." (Ronald Pohl, 2.9.2017)