Die "europäische Perspektive" für Serbien, Montenegro, Mazedonien, Bosnien-Herzegowina, den Kosovo und Albanien ist eine stereotype Formel in den diversen EU-Kommuniqués über die Verhandlungen mit diesen Staaten, die im EU-Jargon mit dem künstlich konstruierten, unsinnigen, jedoch anscheinend unausrottbaren Begriff "Westbalkan" beschrieben werden. Von einer in den weltfremden Kanzleien erhofften regionalen Zusammenarbeit kann leider keine Rede sein. Das zeigt übrigens mit aller wünschenswerten Deutlichkeit der fast operettenhafte Streit sogar zwischen Kroatien und Slowenien, also zwei Nachbarländern und Mitgliedsstaaten in der EU und der Nato, über den Grenzverlauf in der Piran-Bucht.

Was nun die sechs sogenannten Restbalkanstaaten – seit dem Thessaloniki-Gipfeltreffen 2003 Anwärter auf eine Zukunft in der EU – betrifft, muss man freilich auch bei der berechtigten Kritik am mangelnden westlichen Interesse die Proportionen in Betracht ziehen. Immerhin leben in dieser Krisenregion bloß rund 18 Millionen Menschen, das heißt weniger als im Balkanland Rumänien, und sie erwirtschaften etwas weniger als die Slowakei, wo das Pro-Kopf-BIP dreimal höher ist als der Schnitt in diesen sechs Ländern.

All dies ändert aber nichts an der geopolitischen Bedeutung dieser fünf ehemaligen Teilrepubliken des versunkenen Jugoslawiens und des benachbarten Albanien. Zwei Hauptfaktoren haben zur Stabilisierung nach den Jugoslawienkriegen beigetragen. Die Aussicht auf die EU-Mitgliedschaft und die Rolle der USA als Sicherheitsanker mit der Annahme, dass die Amerikaner oder die Nato in einem Konflikt intervenieren würden, so wie 1995 in Bosnien und 1999 im Kosovo. US-Präsident Donald Trump zeigt aber kaum Interesse an der spannungsgeladenen Region.

Angesichts der Eurokrise, des Flüchtlingsproblems, des Brexits und der Bedrohung fast aller Regierungen durch populistische Nationalisten ist die Erweiterung der EU in der absehbaren Zukunft keine realistische Option. In das Vakuum stießen nicht überraschend Russland und die Türkei, Saudi-Arabien und sogar China. Die imperialen Ambitionen und die politische Instrumentalisierung der Orthodoxen und Muslime in der Region beunruhigen die Regierungen in Mazedonien, Montenegro, Albanien und im Kosovo. Der starke Mann Serbiens, Präsident Aleksandar Vučić, gilt in Brüssel bei vielen als der serbische Europäer, in Moskau als ein verlässlicher und traditioneller Freund. Laut der jüngsten Untersuchung des Pew-Umfrageinstituts sind nur 25 Prozent der Serben von der Demokratie als der besten Regierungsform überzeugt.

Autoritär herrschende Regierungschefs mit nationalistischer Herrschaftstechnik, verbunden mit korrupter Cliquenwirtschaft, genießen freilich auch in Albanien und Montenegro, Bosnien und im Kosovo Unterstützung. Viele EU-Politiker haben die fehlenden rechtsstaatlichen Institutionen, Oppositionsrechte und die Pressefreiheit ignoriert, solange die lokalen Autokraten für Ruhe und Ordnung sorgten. Die EU sollte die Kräfte der Zivilgesellschaft unterstützen, die in Mazedonien bereits eine demokratische Wende durchgesetzt haben. (Paul Lendvai, 4.9.2017)