In St. Stefan ob Leoben, jener Gemeinde mit dem geografischen Mittelpunkt der Steiermark, sind wir einer Figur aus der Pop-Kultur begegnet, deren Geschichte große Ähnlichkeit mit jener von Kapitän Ahab aus Moby Dick aufweist. Noch so ein Mann, dessen Bestreben, einen natürlichen Rohstoff auszubeuten, sich in eine verrückte, selbstzerstörerische Reise verwandelt. Wir dürfen vorstellen: Carlos Fermín Fitzcarrald López, der peruanische Gummibaron, der seine indigene Arbeiterschaft gnadenlos tötete, wenn sie nicht arbeiten wollte. Oder noch besser: seine dramatisierte Version Fitzcarraldo, gespielt von Klaus Kinski, der ein ganzes Dampfboot über einen Berg in den Regenwald bewegte. Oder gleich: dessen Regisseur Werner Herzog selbst.

Peter Stamer als Schlauchboot-Fitzcarraldo.
Foto: toxic dreams

All diese realen und fiktionalen Charaktere teilen mit Kapitän Ahab dessen Besessenheit, den verrückten Drang einer Idee zu folgen, selbst wenn Menschen während dieses Prozesses ihr Leben lassen und Freundschaften geopfert werden. Ganz soweit kam es bei uns nicht, selbst wenn die als Referenz gedachte Mitnahme unseres Schlauchboots beim Aufstieg zum Mittelpunkt der Steiermark eine kräfteraubende Angelegenheit war. Darauf folgte eine Wendung, die die Sinnlosigkeit so eines Unterfangens schön zum Vorschein brachte: Die Szene, für die das Schlauchboot eigentlich gebraucht worden wäre, konnte wegen eines Gewitters in den Bergen gar nicht gedreht werden.

Ein Gästebuch performen

Kurz davor, als der Regen gerade begonnen hatte, erregte ein an einem hölzernen Picknicktisch angebrachter, silberner Briefkasten unsere Aufmerksamkeit. Wir finden darin das Gästebuch des Mittelpunkts – dieses Buch wurde unser Szenentext für den ersten Dreh. Volkes Stimme, von den Menschen selbst verfasst.

Susanne Gschwendtner trägt am Mittelpunkt der Steiermark aus dem Gästebuch vor.
Foto: toxic dreams

Naturgemäß ist etwas ganz Falsches daran, die Kommentare zufälliger Touristen laut vorzulesen. Es ist so, als würde man jemandes privates Tagebuch lesen. Andererseits, wer etwas ins Gästebuch schreibt, rechnet damit, dass auch andere Gäste es lesen werden. Dass eine Theatergruppe aus Wien die eigenen Überlegungen in eine Performance verwandeln würde, erwartet man aber wohl eher nicht.

Das ist eine ganz grundlegende Frage: Wir filmen viel in der Öffentlichkeit und die Menschen sehen uns dabei zu – wie zum Beispiel bei dem im Video unten kurz dokumentierten Schlagobers-Slapstick (in Aktion: Isabella-Nora Händler & Yosi Wanunu)  oder landen unversehens auch in unseren Szenen. Manchmal fragen wir nicht um Erlaubnis und manchmal überschreiten wir die Grenzen des guten Geschmacks. Wie weit dürfen wir gehen?

toxic dreams

Die Plastikmonster kommen!

Auf der Weiterfahrt Richtung Burgenland machen wir in einem kleinen Ort Halt, weil wir ein Mittagessen nötig haben. Wir finden eine Gaststätte mit einigen Tischen im Freien – ein Ort halb Bauernhaus, halb Gasthaus. Ein Ort voll mit Kätzchen und Kühen, die in der Nähe grasen. Irgendwie weiß man dabei, dass diese Kühe sich früher oder später auf der Speisekarte des Restaurants wiederfinden werden. Es ist schwer, ja fast unmöglich, in Sichtweite dieser Tiere zu essen, die als Tagesempfehlung auf der Karte stehen. Also streichelt man die Kätzchen liebevoll und ignoriert die Rinder; diese großen Tiere werden in ihrem ruralen Umfeld unsichtbar.

Hinter der Gaststätte entdecken wir einen kleinen runden Swimmingpool. Im Pool dreht eine übergroße Plastikente im Wind ihre Runden. Ein Monsterspielzeug, eine gestörte Vergrößerung des lieblichen Badeentchens.

Vom Kindchenschema bedrängt: Markus Zett.
Foto: toxic dreams

Ländliche Gegenden sind voll von solchen Monstern, groß und klein, wunderschön und todhässlich. Es gibt schließlich genug Platz dafür. Die übergroßen Spielzeuge sind die Provinzversionen von Moby Dick, dem Monster des Meeres, oder von King Kong, dem Monster, das auf einer Insel lebt.

Während wir die riesige Plastikente betrachten, träumen wir von einem Hollywood-Drehbuch, in dem diese Spielzeugmonster in einem idyllischen Alpendorf zum Leben erwachen und alles Essbare zu verschlingen beginnen, das sich ihnen in den Weg stellt. Nur beim Anblick der süßen Augen kleiner Kätzchen verlieren sie den Appetit. Das Kindchenschema wird zur einzigen Waffe gegen die Plastiktiere und verwandelt sie wieder zurück in harmlose, wenn auch riesige, Spielzeuge. The End. (Michael Strohmann, Markus Zett, Yosi Wanunu, 7.9.2017)

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