In schweren Ketten wartet der Gefangene auf seinen Prozess. Doch er kann nur hoffen, dass ihm dieser überhaupt gemacht wird: Sam Kelly (Hamilton Morris) hat in Notwehr einen weißen Mann erschossen, und dass er als Aborigine noch vor dem Eintreffen des Richters am Galgen endet, ist in Alice Springs im Jahr 1929 ziemlich sicher. Im Northern Territory sind nämlich die Weißen die Herren, und wer das Recht auf seiner Seite hat, für den zählt die Gerechtigkeit wenig.

Das eigene Urteilsvermögen

Mit jedem Tag werden bei den Filmfestspielen von Venedig die Spuren deutlicher, die Festivalleiter Alberto Barbera durch sein präzise konzipiertes Programm gelegt hat. Ein Thema, das einzelne Beiträge im Wettbewerb miteinander verbindet, lautet etwa: Wie kommt man der Wahrheit am nächsten? Und wie weit kann man dabei dem eigenen Urteilsvermögen trauen?

Der australische Regisseur Warwick Thornton orientiert sich in seinem Film "Sweet Country" am klassischen Westerngenre und errichtet ein provisorisches Gericht auf offener Straße.

In Sweet Country, dem Mittwochabend präsentierten australischen Beitrag von Warwick Thornton, fällt dieser Urteilsspruch jenem Richter zu, der sein provisorisches Gericht auf offener, staubiger Straße errichtet hat. Thornton bettet seine Erzählung in ein historisches Setting, das sich deutlich am klassischen Western orientiert: Auf die Flucht des Unschuldigen folgt die erbitterte Jagd durch die Verfolger bis in das Stammesgebiet der Aborigines. Mit schlaglichtartigen Vor- und Rückblenden hält Sweet Country aber auch eine formale Spannung aufrecht. Und man ahnt, dass in diesem Outbackwestern mit dem Richterspruch noch nicht das letzte Wort gesprochen ist.

Die Schuldfrage ist auch in The Third Murder (Sandome No Satsujin) von Kore-eda Hirokazu schnell geklärt, hat doch der wegen eines Doppelmordes verurteilte Misumi (Yakusho Koji) den Mord an seinem Arbeitgeber gestanden. Seinen Verteidiger Shigemori (Fukujama Masaharu) plagen indes Zweifel, und er macht sich auf in den Norden, um mit den Hinterbliebenen des Opfers zu sprechen. Und dort, im verschneiten Hokkaido, stellt er fest, dass der Mörder vielleicht nicht die Wahrheit gesagt hat. Warum aber sollte ein unschuldiger Mann ein Verbrechen gestehen, für das er mit dem Tod bestraft wird?

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Als Vorbereitung für sein ungewöhnliches Justizdrama habe er, so Kore-eda Hirokazu, lange Gespräche mit Anwälten und Richtern geführt. Worin sich alle einig waren: Der Gerichtssaal sei keinesfalls der richtige Ort, um der Wahrheit auf den Grund zu gehen. Das habe ihn – wie bereits Kurosawa Akira in seinem Klassiker Rashomon – dazu angeregt, über die Vielschichtigkeit der Wahrheit zu erzählen.

Der seit Jahren für seine feinsinnigen Familiendramen (Like Father, Like Son) bekannte Kore-eda überrascht mit The Third Murder als Genreerzählung mit subtiler Handschrift. In graublauem Dekor und Cinemascope tastet sich Shigemori der vermeintlichen Wahrheit näher, sitzen sich Anwalt und Angeklagter durch eine Glasscheibe getrennt gegenüber, während Licht und Schatten um die Vorherrschaft streiten. Ein mysteriöser und zugleich perfekt komponierter Film.

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Als mysteriös erwies sich auch die neueste Arbeit von Darren Aronofsky, als durchsichtig hingegen die zum Teil vehemente Ablehnung, die ihr am Lido entgegenschlug. Denn für die Akzeptanz von Mother! (ab kommender Woche in den heimischen Kinos) braucht es eben das nötige Verständnis dafür, warum Jennifer Lawrence als gefallener Engel durch dieses Inferno schreitet, das Aronofsky hier mit biblischer Wucht und voller Wut entfacht.

Sie (Lawrence) und Er (Javier Bardem), ein namenloses Paar, bewohnen ein vom Zerfall bedrohtes Haus, in dem der Horror davon ausgeht, dass sich immer mehr Eindringlinge in ihm versammeln und das Paradies in eine Hölle verwandeln. "It’s a mad time to be alive", so Aronofsky. Und damit sagt er die Wahrheit. (Michael Pekler, 7.9.2017)