Tallinn – Die estnische EU-Ratspräsidentschaft erwartet in diesem Jahr keine Entscheidung mehr über die Zukunft der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. Das sagte Estlands Außenminister Sven Mikser, dessen Land noch bis Jahresende die Arbeit auf EU-Ebene organisiert, am Donnerstag in Tallinn.

Er erwarte erst Anfang 2018 eine Einschätzung der EU-Kommission, "ob und zu welchem Grad die Türkei" weiter die Kriterien für die Beitrittsverhandlungen erfülle. "Weitere Entscheidungen werden darauf basieren."

Deutschlands Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hatte sich am Sonntag beim TV-Duell zur Bundestagswahl wie ihr SPD-Herausforderer Martin Schulz klar gegen einen EU-Beitritt der Türkei ausgesprochen. Die Kanzlerin hatte dabei angekündigt, sie wolle nun mit ihren EU-Kollegen darüber sprechen, "ob wir hier zu einer gemeinsamen Position kommen können und diese Beitrittsverhandlungen auch beenden können". Geplant ist dies beim EU-Gipfel im Oktober.

Deutschland will nicht weitermachen

Der deutsche Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) wies beim Treffen der EU-Außenminister in Tallinn zurück, dass es sich um eine "Kehrtwende" der Bundesregierung in der Türkei-Frage handle. Die Türkei entferne sich "mit rasender Geschwindigkeit" von Europa, missachte Menschenrechte, stelle den Rechtsstaat infrage und inhaftiere Journalisten, sagte er.

Deutschland habe lange versucht, "nicht auf die Provokationen der Türkei zu antworten", obwohl Präsident Tayyip Erdogan "uns Nazi-Deutschland genannt hat", fuhr Gabriel fort. Dann aber habe Ankara 680 deutsche Unternehmen verdächtigt, "Terroristen zu unterstützen" und deutsche Staatsbürger in Haft genommen. Deshalb sei nun der Punkt erreicht, an dem Deutschland nicht einfach so weitermachen könne, "als wäre da nichts geschehen".

Finnlands Außenminister Timo Soini, lange Chef der rechtspopulistischen "Wahren Finnen", will dagegen an den Beitrittsgesprächen mit der Türkei festhalten. "Wir wissen, dass es Probleme mit Menschenrechten in der Türkei gibt", sagte er. "Aber ich bin nicht dafür, die Verhandlungen zu stoppen." Dialog mit Ankara sei der beste Weg, um mit Problemen umzugehen. Auch Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hatte in der Früh gesagt, er wolle mit der Türkei weiterreden.

"Wichtiger Partner"

Estlands Minister Mikser sagte, die Türkei werde unabhängig von der Zukunft der Beitrittsgespräche "ein sehr wichtiger Partner der EU in sehr vielen Politikfeldern bleiben". Er verwies dabei auf die Flüchtlingskrise, die Sicherheit in der Nahost-Region und die Rolle als Nato-Staat. "Deshalb müssen wir sehr vorsichtig vorangehen", sagte er. Es dürften "keine voreiligen Entscheidungen" getroffen werden.

Die Beitrittsgespräche mit Ankara laufen seit 2005 und waren immer wieder von langen Phasen des Stillstands geprägt. Zuletzt hatte die EU 2015 und 2016 im Zuge der Zusammenarbeit mit Ankara in der Flüchtlingskrise die Verhandlungen auf zwei neue Politikfelder ausgedehnt. Nach den Massenverhaftungen in der Türkei beschlossen die EU-Staaten aber im Dezember, die Gespräche bis auf Weiteres nicht mehr auszuweiten.

Für ein vollständiges Ende der Beitrittsverhandlungen wäre ein einstimmiger Beschluss der EU-Mitgliedstaaten nötig. Allerdings gibt es auch die Möglichkeit, diese auszusetzen. Dafür würde eine qualifizierte Mehrheit ausreichen. Nötig wären mindestens 16 EU-Länder. Die Wiederaufnahme der Gespräche könnte dann nur durch einen einstimmigen Beschluss erfolgen. (APA, 7.9.2017)