Der Himmel über Unterpullendorf zieht sich gemächlich zu. Fast in Zeitlupe verschmelzen an diesem Septembertag die Wölkchen über dem Burgenland zu einem regnerischen Grau. Wir finden uns vor der Tür des Pfarrhauses wieder, einem Bungalow, der direkt neben der Dorfkirche St. Bartholomäus an der Durchfahrtsstraße steht. Neben der Tür ist eine Tontafel angebracht, auf der auf kroatisch das Motto des heiligen Franziskus zu lesen ist: "Friede und Güte". Nach mehrmaligem Läuten öffnet uns ohne große Hast Pfarrer Vjeko Matic. Hinter ihm steht Evelyn, eine Frau aus dem Kirchengemeinderat, die den Pfarrer bei seiner Verwaltungsarbeit unterstützt. Die beiden bitten uns ins Wohnzimmer – ein nicht sehr üppig eingerichteter Raum – in dem ein großer Tisch steht, an dem wir Platz nehmen.

Der Mittelpunktstein in Unterpullendorf, errichtet von der Vereinigung burgenländischer Geografen.
Foto: toxic dreams

Matic stammt ursprünglich aus dem kroatischen Teil Bosniens, nach Stationen unter anderem in Aachen, hat ihn die Kirchenverwaltung nach Unterpullendorf ins Dekanat Großwarasdorf geschickt, an jenen Ort, in dem sich der geografische Mittelpunkt des Burgenlands befindet. Dass das Mittelpunktsmonument – ein mittelgroßer Findling, von einem bronzenen Ring umzogen, auf dem in ungarisch, kroatisch und deutsch auf den Grund seines Daseins aufmerksam gemacht wird – ausgerechnet neben einer Kapelle steht, ist für unsere Reisegeschichte ein willkommener Zufall.

Ein biblischer Wal

Auf dem Tisch liegt bereits der Text, den wir dem Pfarrer vor unserer Reise zugeschickt haben: Auszüge aus der Predigt zum Gleichnis von Jona und dem Wal, die Father Mapple im Roman "Moby Dick" in der Kirche auf Nantucket an die zum Aufbruch bereiten Walfänger und deren Familien richtet. Pfarrer Matic soll diese Predigt am Sonntagnachmittag für uns Seefahrer halten – er hatte bereits bei unserer telefonischen Anfrage vor einigen Wochen zugesagt, doch jetzt sei er schon ein bisschen nervös, wie er zugibt. Er wäre für das Theater immer schon viel zu schüchtern gewesen, meint er. Aber wir müssen ihn nicht lange bitten, uns am Wohnzimmertisch eine Kostprobe seines Vortragskönnens zu geben – auf deutsch, anders als es seine Gemeindemitglieder gewohnt sind, die ihren Pfarrer auf kroatisch predigen hören.

Der Pfarrer, der Sliwowitz und der Draht nach oben

Denn in dieser Region sind seit mehreren Jahrhunderten die Burgenlandkroaten zuhause, deren Gebräuche und Sprache von nicht weniger als 20.000 Menschen gepflegt und weitergegeben werden. An diesem Traditionserhalt hat Pfarrer Matic als sogenannter Pfarrmoderator von Unterpullendorf seit nunmehr zwei Jahren Anteil. Im Wohnzimmer stellt Matic jetzt eine Flasche selbstgebrannten Sliwowitz auf den Tisch, den er aus Bosnien bezieht – eine Art kulinarische Heimatpflege, die er mit uns teilen will. Trotz unserer abwehrenden Handbewegung – schließlich müssen wir noch Autofahren – schenkt uns der Pfarrer ein. Evelyn, die Kirchengemeinderätin, so zwinkert Matic uns zu, sei im Hauptberuf Polizistin. Es gebe daher einen guten Kontakt zu den Verkehrshütern. Und wenn das nichts helfe: er sei ja Pfarrer mit einem besonderen Draht nach oben, schmunzelt er. Ob das auch der Himmel über Unterpullendorf weiß, aus dem es gerade zu regnen begonnen hat?

Die toxic-dreams-Mariachi-Combo übt sich im Mittelpunkt des Burgenlands in schlechtem Geschmack.
Foto: toxic dreams

Nach unserem Besuch beim Pfarrer führen wir am Mittelpunktstein aus Furcht, dass auch unsere große Aktion wetterbedingt ins Wasser fallen könnte, noch unser landing ritual durch. Mit Seemannskostüm und Sombreros tragen wir unser auf der Reise nach Unterpullendorf eigens dafür geschriebenes Lied im Mariachi-Stil vor. Im Song geht es, natürlich, um Seemänner, die ihre Heimat verlassen, um in die Welt zu ziehen. Was natürlich nicht ganz ernst gemeint ist, unser Grinsen bricht immer wieder hinter unseren deadpan faces hervor.

In der Kinder- und Familienmesse

Am Sonntag – es ist noch immer grau – besuchen wir um 10 Uhr, in vollem Seemansornat die Heilige Messe, zu der uns der Pfarrer am Vortag eingeladen hat. Die Kirche ist zu unserem Erstaunen bis auf den letzten Platz gefüllt. Junge und alte Menschen, die gesamte Kirchengemeinde scheint zu diesem Gottesdienst gekommen zu sein. Weil dieser, wie jeden ersten Sonntag im Monat, den Kindern und Familien des Dorfes gewidmet ist, ist auch ein Team des ORF vor Ort, so dass wir in Kostüm und Kamera nicht ganz so aufzufallen scheinen.

Nach der Predigt gibt uns Pfarrer Matic die Gelegenheit, auf unsere Veranstaltung am Nachmittag hinzuweisen: für unsere Aufnahmen in der Donatus-Kapelle suchen wir noch Mitspieler. Trotz der positiven Reaktion der Angesprochenen bleiben wir skeptisch, ob sich die Menschen an diesem feuchten Sonntagnachmittag aufraffen werden, den Weg zur Kapelle in den Weinbergen zu finden.

Letzte Instruktionen vor der Donatuskapelle.
Foto: toxic dreams

Aber dann tatsächlich, als wir ein paar Stunden später an der Kapelle ankommen: die Wolken reißen immer wieder auf und geben den Blick auf einen strahlend blauen Sonntagshimmel frei. Wir sind, wie schon auf unserer gesamten Reise, als Matrosen angezogen, haben aber, dem Anlass angemessen, das blaue gegen das weiße Ausgehcappy getauscht. Gerade als wir mit den Kameraaufbauten fertig sind, steigt der Pfarrer aus seinem Auto. Gut gelaunt deutet er wortlos nach oben zum blauen Himmel und lacht.

Wetter- und Seefahrersegen

Und dann treffen auch schon, einer nach dem anderen, unsere Gäste ein, auch Evelyn ist gekommen, selbst die Bürgermeisterin, so dass die kleine Kapelle kaum die am Ende über 30 Menschen fassen kann, die nun Father Mapples Worten aus dem Mund von Pfarrer Matic lauschen. Sein Vortrag ist ernsthaft, bar jeglicher Versuche dem Text eine schauspielerische Note zu verleihen. Ohne sich selbst in den Mittelpunkt zu stellen, widmet er sich dem Gleichnis von Jona und dem Wal, wie es Melville in seinem Roman ausgelegt hat, dem Zweifel und dem Aufbegehren Jonas gegen Gott, der jedoch nichts anderes fordert, als an die Wahrheit zu glauben und diese zu verbreiten – Worte, die angesichts der derzeitigen Weltlage die Anwesenden zu erreichen scheinen, jedenfalls füllen sich nicht wenige Augen mit Tränen.

Pfarrer Vjeko Matic mit der berühmten Walfängerpredigt aus Moby Dick.
Foto: toxic dreams

Da auf die Predigt in Buch und Film das Auslaufen der Walfängerschiffe erfolgt, spielen wir gleich im Anschluss eine "Abschiedsszene", für die wir unsere Mitspieler bitten, ein Spalier zu bilden, durch das wir dann gehen, um uns vor der großen Reise von jedem einzelnen "zu verabschieden". Statisten wie Darsteller treten Tränen in die Augen, als würden wir für immer weggehen. Aber irgendwie ist dem ja auch so, denn wann wird unsere Truppe, außerhalb des Projekts, je wieder nach Unterpullendorf kommen? – Leinen los! Schiff Ahoi! Weiter geht’s!

Abschluss- und Abschiedsbild mit allen am Dreh in Unterpullendorf Beteiligten.
Foto: toxic dreams

Ein Abstecher auf dem Weg nach Kärnten

Auf unserer Reise mit Moby Dick sympathisieren wir besonders mit jenen, die schon vor uns ihren jeweils ganz persönlichen Walen nachgejagt sind. Deshalb konnten wir uns einen Besuch in Kaag bei Edelsbach in der Steiermark nicht entgehen lassen.

Ähnlich wie in St. Stefan ob Leoben und der Gegend rund um den Erzberg dreht sich auch im Herzen von Franz Gsellmanns Maschine eine Eisen-Kristallstruktur. Im Schlaf hatte er eine Vision, von der sich herausstellte, dass es sich um das Atomium handelte, das 1958 zur Weltausstellung in Brüssel gebaut wurde. Gsellmann wanderte zum nächsten Bahnhof, fuhr nach Brüssel, besah das Atomium und machte sich noch am selben Tag auf die Heimreise.

Zuhause zog er sich in einen Raum zurück, dessen Schlüssel er immer um den Hals trug. Hier arbeitete er an seinem Werk, das er erst kurz vor seinem Tod fertigstellte. Seine kinetische Skulptur, der er selbst keinen Namen zu geben vermochte, beeinflusste sogar den Künstler Jean Tinguely.

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Gsellmanns Weltmaschine.
Foto: Toxic Dreams

Am beeindruckendsten für uns ist aber der Grad an Obsession, den dieser Mensch an den Tag legte: sich in den 1950er-Jahren unter den schrägen Blicken der Nachbarn jahrelang einer völlig sinnlosen, weil unproduktiven, zweckfreien Maschine zuzuwenden, stellt Ahab und Fitzcarraldo weit in den Schatten. (Peter Stamer, Michael Strohmann, Markus Zett, 11.9.2017)

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