Trotz nur einer Erwähnung im Alten Testament hat die Dämonin Lilith eine steile Karriere als Archetyp des weiblichen Bösen im Judentum hingelegt. Im jüdischen Volksglauben ist sie vor allem als die erste Partnerin Adams bekannt, die erste von JHWH (Jahwe) geschaffene Frau, die aus dem Garten Eden floh und folglich dazu verurteilt wurde, bis in alle Ewigkeit zum Sterben verdammte dämonische Kinder zu gebären – alles aufgrund ihres Ungehorsams gegenüber der männlichen Autorität. Seitdem wandert Lilith durch die Nacht, sucht Frauen und deren Neugeborene heim und schleicht sich in die Träume von Männern ein. Sie ist eine Mörderin kleiner Kinder, der Inbegriff des Sukkubus, die Dämonin der Masturbation – kurzum, Lilith ist alles, was unrein ist.

Ihre über tausendjährige Wirkungsgeschichte ist jedoch keineswegs auf die europäische Religionsgeschichte zu beschränken: Neben ihrem merkbaren Einfluss auf zahlreiche andere Dämoninnen-Legenden spielt Lilith besonders im jüdischen Feminismus ab den 1960ern eine tragende Rolle. Hier erfährt die Figur eine Umdeutung von der Dämonin und Hure zum Vorbild für weibliche Autonomie – nicht zuletzt in sexueller Hinsicht. Aber auch in Literatur, Kunst und Popkultur finden sich immer wieder Lilith-Gestalten, von Goethes Faust oder den Präraffaeliten bis hin zu Marvels Dracula-Comics und HBOs Vampirserie "True Blood". Diese zahlreichen Transformationsprozesse bieten auf exemplarische Weise Aufschlüsse in Hinblick auf die Frage, wie patriarchale religiöse Konzepte des weiblichen Bösen in der modernen Populärkultur wiederkehren, weitertradiert oder doch möglicherweise umgewertet werden – worauf in späteren Blogbeiträgen näher eingegangen wird.

Mesopotamische Vorbilder

Die Vorstellung einer bösen Kindbettdämonin, die zugleich als zügellose Verführerin auftritt, gibt es jedoch nicht nur im Judentum. So liegen etwa auch Quellen zu einigen älteren mesopotamischen Dämoninnen-Figuren vor, denen ähnliche Eigenschaften wie Lilith zugesprochen werden und die vermutlich den jüdischen Mythos beeinflusst haben. Da wäre beispielsweise Lamaštu, eine besonders bedeutsame Dämonin innerhalb der akkadischen Mythologie. Aus archäologischen und schriftlichen Quellen, wie Amuletttäfelchen und Abwehrsprüchen, geht hervor, dass Lamaštu als Krankheitsbringerin gefürchtet wurde. Ihre liebsten Opfer seien laut den Quellen Un- und Neugeborene, deren Blut die Dämonin gerne trinke: Ein Motiv, das man auch beim späteren jüdischen Lilith-Mythos findet.

Auch Lilitu sollte an dieser Stelle erwähnt werden, nicht nur wegen der – auf den ersten Blick anzunehmenden – Namensverwandtschaft zu Lilith. Sie ist aus verschiedenen sumerischen Beschwörungstexten bekannt als Teil einer Triade von Sturmdämoninnen und -dämonen. Auch sie wurde insbesondere als Gefahr für Kinder gefürchtet, aber auch als Verführerin. Jenen Aspekt der offensiven, ungezügelten weiblichen Sexualität, die als antizivilisatorische Bedrohung geschildert wird, finden wir bei dem späteren jüdischen Lilith-Mythos in gesteigerter Form.

Das Burney-Relief (ca. 1800 v.Chr.-1750 v.Chr), eine archäologisch umstrittene Darstellung Lilitus.
Foto: British Museum/Wikimedia Commons [cc;0;by]

Außerhalb der Zivilisation: Lilith im Alten Testament

Die erste Erwähnung Liliths im Judentum findet sich im Alten Testament, und zwar im Buch Jesaja. Hier wird ein postapokalyptisches Szenario geschildert: Das Land Edom nach der Zerstörung durch JHWH, in dem nun sämtliche dunkle und unreine Krea­turen ihr Unwesen treiben – darunter auch Lilith. Konkret heißt es an der Stelle: "Dort begegnen sich wilde Katzen und Wüstenhunde, Bocksgeister halten dort ihr Stelldichein; dort rastet Lilit und findet einen stillen Ort für sich" (Jes 34,14).

Dass Lilith hier mit unreinen Wüstentieren und der antizivilisatorischen Peripherie in Verbindung gebracht wird, erinnert an Darstellungen ihrer mesopotamischen Vorgängerinnen, Lamaštu und Lilitu. Mehr erfahren wir über sie jedoch nicht aus der Bibel. Jüdische Quellen, die sich eingehend mit Lilith auseinandersetzen, finden sich erst im Mittelalter im Rahmen der rabbinischen Literatur. Der wohl bekannteste Text über die böse Dämonin ist im "Alphabet des Ben Sira" enthalten, einem überaus komplexen anonymen hebräischen Text aus dem Mittelalter. Lilith war zwar bereits davor als Würgerin von Kleinkindern bekannt, wie aus jüdischen Abwehrsprüchen hervorgeht, doch im "Alphabet des Ben Sira" kommt der Figur eine neue Dimension zu.

Die Königin des Unreinen: Lilith in der rabbinischen Literatur 

Dort steht geschrieben, dass Adam vor Eva eine andere Frau hatte: Lilith. Sie wurde von JHWH als Adams Partnerin geschaffen, allerdings nicht aus seiner Rippe, sondern aus derselben Erde wie Adam selbst. Dieser Umstand führte Lilith offenbar zu dem Trugschluss, sie und Adam seien gleichberechtigt. Daher war es für sie naheliegend, von Adam einzufordern, nicht unter ihm liegen zu müssen, sondern selbst die aktive Position beim Sex einzunehmen, womit er jedoch gar nicht einverstanden war. Also verließ Lilith das Paradies und floh. Adam beschwerte sich daraufhin bei seinem Vater, dieser solle seine Frau zurückholen. So schickte JHWH Lilith drei Engel hinterher ans Rote Meer, wo diese sich bereits mit unzähligen Dämonen verbunden hatte. Lilith kehrte nicht zurück ins Paradies. Allerdings blieb ihr Ungehorsam natürlich nicht ungestraft: Fortan sollen jeden Tag 100 ihrer dämonischen Kinder sterben. Als Vergeltung dafür tötet Lilith täglich 100 Menschenkinder.

In dieser Geschichte zeigt sich, dass die jüdische Legende der Lilith vor allem als Erklärungsmuster für Säuglingssterblichkeit zu verstehen ist. Entsprechend wird sie auch im "Alphabet des Ben Sira" als Verantwortliche für den Tod von Müttern und kleinen Kindern eingeleitet. Doch auch ihre Rolle als Verführerin ist ein wichtiger Aspekt der Figur in der rabbinischen Literatur des Mittelalters. Sie wird darin für gewöhnlich als ihrer Gestalt nach schöne Frau mit langen (oft roten) Haaren beschrieben, manchmal auch mit tierischen Merkmalen wie Flügeln versetzt. Generell kann Lilith als trügerische Dämonin ihre Gestalt wandeln. Besonders gerne tritt sie bei Nacht in Erscheinung und lauert dabei Männern auf. So heißt es an einer Talmudstelle: "Man darf nicht in einem Haus allein schlafen, und wer in einem vereinzelt stehenden Hause schläft, wird von der Lilith überfallen" (Babylonischer Talmud, Traktat Sabbath XXIII, v, fol. 151b.). Tut ein Mann dies dennoch, könne es passieren, dass Lilith ihn während des Schlafes heimsuche um ihn zum Masturbieren zu verführen. Den Samen fange sie daraufhin auf, um daraus ihre dämonischen Kinder, die Lilim, zu empfangen. Diese Vorstellung kann auch als Erklärungsmuster für Ejakulationsträume verstanden werden, die bereits in der Antike sogenannten Incubi und Succubi, also dämonischen Wesen wie Lilith, zugeschrieben wurden.

Jenseits der Grenzen ihres Geschlechts

Betrachtet man die Legenden um Lilith und deren Dämonie von ihren mesopotamischen Vorbildern bis hin zu den talmudischen und kabbalistischen Quellen des Mittelalters, so ergibt sich ein äußerst komplexes Bild. Ihre am häufigsten hervorgehobenen Rollen sind jedoch beinahe durchgängig die der grausamen Kindermörderin auf der einen und die der gefährlichen Verführerin auf der anderen Seite. Was ebenfalls eine Konstante in ihren Beschreibungen darstellt, ist die außergewöhnlich große Macht, die ihr stets zugeschrieben wird. Diese Macht steht stets in untrennbarer Verbindung mit ihrer Sexualität. Das spiegelt sich nicht nur in ihrer Rolle als gefährliche Verführerin wieder, die unschuldigen Männern auflauert und ihnen während des Aktes das Blut aussaugt, sondern auch in ihrer Funktion als Kindbettdämonin: Lilith verkörpert demnach nicht nur selbst alles, was außerhalb der sexuellen Norm liegt, sondern versucht zugleich auch, alles innerhalb dieser Grenzen liegende zu zerstören. Doch wie bereits angedeutet endet hier die Rezeptions- und Wirkungsgeschichte Liliths noch keineswegs. Als Figur, die exemplarisch die Grenzen von Geschlechterrollen innerhalb eines patriarchalen religiösen Bezugsrahmens aufzeigt, erfuhr Lilith im Laufe der Jahrhunderte noch zahlreiche Umdeutungen. (Kathrin Trattner, 13.9.2017)

Fortsetzung folgt.

Literaturtipp

  • Kathrin Trattner: Liliths Kinder. Adams erste Frau in der Religionsgeschichte und modernen Populärkultur. Graz: Leykam 2016 [Grazer Universitätsverlag].

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