Bei einem der jüngsten EU-Gipfel: Die Stimmung zwischen den Parteifreunden Angela Merkel und Viktor Orbán war schon einmal besser.

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Ritter der Magyaren, Ihr zieht also erneut gegen Europa?", fragte der große ungarische Dichter Endre Ady vor mehr als hundert Jahren. Diese Frage ist heute wieder aktuell, denn die ungarische Regierung und die ihr nahestehende intellektuelle Elite entziehen sich der Eingliederung in die politische Ordnung des Abendlandes. Sie operieren mit der Parole "Stoppt Brüssel!".

Als Grundlage seines Krieges mit Brüssel erklärt Ministerpräsident Viktor Orbán: "Der Niedergang des Westens ist unübersehbar. Was unsere Gegner heute behaupten, ist reiner Nihilismus und hat mit den Ansichten großer Liberaler früherer Zeiten nichts zu tun. Diese nihilistische Sichtweise macht sich breit in den Institutionen der Welt und der EU".

In einem Interview 2016 erklärte er: "Ab Ende der 1980er-Jahre ist ein Status quo entstanden, der allgemein für unabänderlich gehalten wurde." Dazu zählte er die Ansichten: "Russland könnte nur unser Feind sein" oder "Der freie Markt behält gegenüber dem Staat immer recht". Laut Orbán haben diese angeblich in Stein gemeißelten Thesen ihre Gültigkeit verloren. Dennoch "haben in Brüssel die Befürworter einer liberalen Globalisierung das Sagen", und dagegen sollten sich die Nationalstaaten auflehnen.

Die auf dem Prinzip der Nationalstaaten gegründete EU wäre laut Orbán in letzter Zeit infrage gestellt und, wie er sagte, "durch die Utopie eines multikulturellen Europa versklavt worden".

Nach den Wahlen in Deutschland sind in der EU tatsächlich wesentliche Veränderungen zu erwarten. Sie werden der ungarischen Regierung kaum schmecken. Als Folge des Brexits haben Deutschland und Frankreich eingesehen, dass die Wettbewerbsfähigkeit und der Einfluss Europas in der Welt nur durch engere Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten erreicht werden können. Es liegt auf der Hand, dass sich dafür zunächst der Kreis der Euro-Zone eignet. Für das Zusammenrücken dieser Länder wird an die Einführung eines gemeinsamen Finanzministers mit einem gemeinsamen Budget gedacht. Das Schwierigste dabei könnte die gemeinsame Behandlung der Staatsschulden sein.

Unter den Visegrád-Staaten (Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn) haben die Slowaken und die Tschechen schon signalisiert, dass sie zu Kerneuropa gehören wollen. Auch Ungarn muss sich entscheiden.

Die EU-Kommission würde theoretisch jeden willkommen heißen. Davon zeugen auch die Worte von Wirtschafts- und Währungskommissar Pierre Moscovici, wonach man im kommenden Herbst den Ländern ohne Euro ein einmaliges Angebot unterbreiten werde. Durch die Verlautbarungen Orbáns entsteht aber der Eindruck, er möchte Ungarn lieber außerhalb Kerneuropas sehen.

Zu viel Risiko

Wäre das wirklich im Interesse Ungarns? Die Beispiele Tschechien und Slowakei zeigen: Gäbe es für sie die Möglichkeit, zu Kerneuropa zu gehören, würden sie die Gelegenheit gern wahrnehmen. Obwohl die engere Anbindung an die EU mit wesentlichen Kompromissen einhergeht, wissen sie sehr wohl, dass ihre Situation außerhalb des Vereins sowohl wirtschaftlich als auch geopolitisch mit viel Risiko verbunden ist.

Gerade deshalb ist die von Orbán angestrebte, immer enger werdende Bindung an Russland so gefährlich. Der Beginn der Bauarbeiten für das Atomkraftwerk Paks 2 ist für Jänner 2018 angesetzt – das war die offizielle Verlautbarung bei Putins Besuch in Ungarn vor wenigen Tagen. Russland unterstützt den Neubau mit einem Kredit von zwölf Milliarden Dollar. Ein nicht nur aus wirtschaftlichen und energietechnischen Gesichtspunkten fragwürdiger Plan, denn hier geht es auch um die Souveränität des Landes. Dadurch wird die Abhängigkeit Ungarns von Russland sowohl finanziell als auch in der Energieversorgung weiter zunehmen.

Die Orbán-Regierung behauptet, ihr einziges Ziel sei das Wohl der Nation. Gerade in Bezug auf Russland ist das wenig glaubhaft. Natürlich ist für Orbán Putin als Handelspartner wichtig, daher ist er bemüht, mit Russland gute Geschäftsbeziehungen zu pflegen. Bekannt ist aber auch, dass die Handelsbeziehungen bei den Russen traditionell der Politik untergeordnet sind. Für Putin ist Ungarn sein Trojaner innerhalb der EU und der Nato.

Deutschland ist mit seiner "Ostpolitik" auf friedfertigem Kurs mit Russland. Orbán erklärte mehrfach, er würde in der Außenpolitik Deutschland folgen und hoffe, dass es früher oder später den Deutschen gelinge, mit den Russen einen Kompromiss zu schließen. Dementsprechend befürwortet er in der EU die Sanktionen gegen Russland. Nun muss er damit rechnen, bei einem Wahlsieg von Angela Merkel Entscheidungen zu treffen. Die Deutschen sind nach allem Anschein interessiert, Osteuropa in Kerneuropa miteinzubeziehen, und es jedem willigen Land zu ermöglichen, diese Gelegenheit wahrzunehmen.

Im Grunde genommen kann Ungarn noch ein wenig zusehen, wie die Pläne sich entwickeln. Jetzt muss es sich nur festlegen, ob es grundsätzlich zu Kerneuropa gehören möchte. Bis die Einführung des Euro in vier bis fünf Jahren an die Reihe kommt, wird es sich herausstellen, ob das französisch-deutsche Tandem seine Vorstellungen verwirklichen konnte. Gegenwärtig ist Ungarn Teil des Machtmechanismus der EU, noch kann es bei wichtigen Entscheidungen sein Veto einlegen. Bleibt Ungarn außen vor, kann es für seine Interessen nicht mehr wirkungsvoll einstehen.

25 Milliarden Strukturgelder

Auch die bisherigen Strukturgelder aus Brüssel (Ungarn hat in den letzten sieben Jahren 25 Milliarden Euro erhalten) würden in erheblichem Maße gekürzt. Für Orbán würde das nur zur Folge haben, dass er von nun an seine Macht ohne jegliche Kontrolle nach demokratischen Maßstäben ausüben könnte.

Entscheidet er sich also für seine illiberale Demokratie, indem er das kurzfristige Interesse der jetzigen Machthaber dem langfristigen Interesse des Landes vorzieht, hat wieder der große Dichter Endre Ady recht: Er hatte Ungarn als Fährenland bezeichnet, das selbst in seinen kühnsten Träumen nur zwischen den östlichen und westlichen Ufern hin und her zu pendeln vermag. (István Riba, 12.9.2017)