Graz – In Österreich, einem erprobten Schauplatz der Wirklichkeitsverdrängung, ist man zu jeder Veränderung bereit – solange nur hinlänglich gesichert erscheint, dass alles so bleibt, wie es von jeher gewesen ist. Von der Verknöcherung, vom allmählichen Absterben der Monarchie hat die Zweite Republik daher die wesentlichste Lektion mit in ihr föderales Kulturleben herübergerettet. Der Fortschritt? Ist eine feine Sache. Praktizieren sollen ihn aber zuerst die anderen.

So kann und muss man die Gründung des Steirischen Herbstes vor 50 Jahren als Ausdruck eines inneren Zerwürfnisses deuten, das Österreich als Ganzes betraf. Denn indem die Alpenrepublik an den Gliedern gestärkt wurde, fiel nicht mehr auf, was ihrem Haupt (als dem geografischen Wasserkopf) über lange Zeit hinweg entbehrlich blieb.

Als daher der Steirische Herbst zum Leben erweckt wurde, waren zum Beispiel die Spuren der Wiener Gruppe (H. C. Artmann, Konrad Bayer, Oswald Wiener, Friedrich Achleitner) aus dem Gedächtnis Wiens einigermaßen getilgt. Die Produktivkraft war ab- und weitergeflossen nach Graz. Dort riskierte der Kreis rund um das Forum Stadtpark und die Zeitschrift Manuskripte (Herausgeber: Alfred Kolleritsch) eine konsequente Fortschreibung der in Wien bis 1962 erzielten Ergebnisse. Im Großen ging die Förderung der modernen Künste auf die ebenso mutige wie weitsichtige Initiative liberaler steirischer ÖVP-Granden zurück.

Nerven für die Kunst

Aus Graz war nicht über Nacht Arkadien geworden. Aber man meinte, die Auseinandersetzung um den widersetzlichen Gehalt der modernen Kunst führen zu können, ohne sich darum schon etwas zu vergeben. Aus der ursprünglich gremialen Leitung des Festivals ging allmählich ein Intendanzsystem hervor.

Als Renaissance-Intellektueller importierte und implementierte Peter Vujica, Herr des Steirischen Herbstes von 1983 bis 1989, die herrlichsten Provokationen. Der prompt sich erhebende Gegenwind kostete ihn Nerven, zauste aber kaum sein Haar. Als der ostdeutsche Dramatiker Heiner Müller 1984 seine Bildbeschreibung mit nach Graz brachte – ein Schlüsselwerk der damals anbrechenden "Postdramatik" -, gewährte ihm Vujica privat Unterschlupf, damit er seine Prosa zu Ende bringe. Als die "öffentlichen" Klangskulpturen Bill Fontanas über den Grazer Uhrturm fegten, bot der Intendant geräuschempfindlichen Protestierern ungerührt die Stirn.

Heute ist Veronica Kaup-Hasler die vierte Intendantin nach Vujica. Der Titel des diesjährigen Herbstes ("Where Are We Now?") verdankt David Bowie viel. Mehr noch aber wird ein Moment der Selbstreflexion spürbar. Längst schon hat die dritte oder vierte Moderne (mit der Aufhebung der Gattungsgrenzen, der durchgängigen Diskursivierung ihrer künstlerischen Praktiken) den ihr zustehenden Anteil an der Freiheit ausgehändigt bekommen. Ihr weitgehend ungestörtes Wirken bezahlt die Avantgarde von heute mit dem unverbindlichen Interesse, das man ihr entgegenbringt. Doch der Steirische Herbst lohnt nicht nur 2017 jede Anstrengung. (poh, Spezial, 15.9.2017)