STANDARD: Wenn Sie gewusst hätten, dass sich die Stimmung für die Grünen so verschlechtert, hätten Sie sich dann eine Kandidatur überhaupt angetan?

Lunacek: Die Frage stellt sich nicht. Es waren die Umfragewerte im Mai auch nicht so gut. Aber ich habe damals gefunden, ich kann etwas dazu beitragen, dass die Grünen auch wieder zulegen und dass Österreich nicht weiter nach rechts abdriftet, weil mir das nach acht Jahren im Europaparlament ein ganz zentrales Anliegen ist.

DER STANDARD

STANDARD: So richtig nach Zulegen schaut es leider nicht aus.

Lunacek: Ich nehme mir das Frauenfußballteam von der EM zum Vorbild. Die starteten auch aus den hinteren Reihen und haben dann Überraschungen geliefert. Also: Nicht aufgeben! Das hab ich auch noch nie getan. Und bereuen auch nicht.

Schalko: Ich frage mich als Wähler, wie es den Grünen gelingt, in einem Wahlkampf, der so rechts dominiert ist, weil es ja ausschließlich um dieses Sicherheitsthema zu gehen scheint, mit den Themen der Grünen zu mobilisieren?

Lunacek: Flüchtlinge und Sicherheit sind natürlich ein zentrales Thema, aber nicht das einzige. Dieser Rekordsommer mit Dürre, Unwettern, Hagel, Hitze in einem Ausmaß, wie wir sie wiederholend in den letzten Jahren hatten – das sind lauter Vorkommnisse, die die Menschen sehr bewegen. Da wird auch wahrgenommen, wofür wir Grüne stehen, nämlich für Umwelt- und Klimaschutz. Das zweite Thema ist, dass die Schere zwischen Arm und Reich in Österreich auseinandergeht. Wir haben eine Situation, wo gerade Frauen im Alter unter der Armutsgrenze leben müssen.

Reden über einen sozialen Tsunami: David Schalko und Ulrike Lunacek
Foto: Matthias Cremer

STANDARD: Aber für das Thema Frauenpension hat es eine Wut-Oma gebraucht, von der sich herausgestellt hat, dass sie eine Nazi-Oma ist. So eine alte Nazifrau bringt das Thema besser hin als die Grünen ...

Lunacek: Das stimmt so nicht. Frau Burtscher hat grüne Anträge übernommen, nicht umgekehrt. Das sind unsere Anträge zur Anerkennung der Kindererziehungs-, Präsenz- und Zivildienstzeiten. Die wichtigste Aufgabe eines Pensionssystems ist, die Existenz im Alter zu sichern. Das leistet unser derzeitiges System nicht. Die mittlere Pension von Frauen liegt bei 828 Euro. Für Männer und Frauen zusammen bei 1082 Euro. Gleichzeitig erhalten knapp 11.000 Menschen aus Steuermittel gestützte Pensionen über 5000 Euro. Hier ist endlich etwas dagegen zu tun.

Schalko: Ich finde es ganz interessant, dass jetzt im Wahlkampf plötzlich alle die soziale Ungerechtigkeit für sich entdecken, um ihre Ideologien über das Thema drüberzustülpen. Kurz hat das ja jetzt auch okkupiert. Und im Prinzip geht es da um Förderungsstreichungen, das betrifft dann ja am ehesten die Leute, die eh schon arm sind?

Lunacek: Herr Kurz sagt, dass er Förderungen streichen will. Und das wird auch jene treffen, die sich ehrenamtlich engagieren, vielleicht auch für Projekte, die Kurz nicht recht sind. Seine ÖVP will zwischen zwölf und 14 Milliarden an Steuersenkung. Wir kennen das aus der Zeit von Schwarz-Blau. Das wird eine reine Kürzung bei den Ärmeren und bei der Mittelschicht. Die wirklich Reichen, die auch etwas zu zahlen hätten, die werden nicht belangt. Wir setzen uns schon seit jeher für soziale Gerechtigkeit ein. So auch bei der Mindestsicherung: Wir wollen, dass diese in ganz Österreich auf gleichem Niveau ist. Das haben einige Landeshauptleute und auch Teile der Bundesregierung verhindert. Aber in Wien ist es uns Grünen gelungen, dass es keine Kürzungen der Mindestsicherung gibt. Ein anderer Punkt sind die Mieten – im Vergleich zu den 1970ern zahlen die Leute prozentuell um einiges mehr als damals.

David Schalko: "Ich finde es interessant, dass alle die soziale Ungerechtigkeit entdecken, um ihre Ideologie über das Thema zu stülpen."
Foto: Matthias Cremer

Schalko: Würde man das durch eine Obergrenze verhindern?

Lunacek: Mit Obergrenzen, wie es sie im Altbau schon gibt. Für Wien 7,50 Euro, je nach Ausstattung oder Lage kann man einen Korridor einziehen, 25 Prozent auf oder ab. Es geht ja darum, die Spekulationen mit Wohnraum zu verhindern. Dass sich einige wenige daran bereichern, kann man mit einer Mietzinsobergrenze verhindern.

STANDARD: Dass Wohnraum teurer geworden ist, liegt aber weniger an der Spekulation als daran, dass speziell in Wien die Nachfrage gestiegen ist. In der Marktwirtschaft würde man sagen: Da brauchen wir halt mehr Wohnungen.

Lunacek: Es braucht beide Zugänge, um leistbares Wohnen zu gewährleisten. Tatsache ist, dass für Miete oft mehr als die Hälfte des Einkommens draufgeht.

Schalko: Man hat ein bisschen das Gefühl, dass der Spielraum sehr klein ist, was Umverteilung betrifft. Weil wahnsinnig viele Kompetenzen nach Brüssel abgewandert sind. Über die großen Dinge, die transeuropäisch gelöst werden müssen, herrscht dann große Uneinigkeit, weil gerade da keine Kompetenz in Brüssel liegt: Es braucht ein europäisches Einwanderungsgesetz. Vielleicht sogar ein europäisches Sozialgesetz etc. Jeder spürt, dass da ein großer Tsunami kommt, aber niemand traut der Politik zu, diesen Tsunami auf irgendeine Art und Weise aufzuhalten.

Lunacek: Welcher Tsunami?

Schalko: Ein sozialer Tsunami, sage ich jetzt mal. Ich glaube schon, dass in zehn Jahren in Europa eine andere Situation herrschen wird als jetzt. Es braucht große Eingriffe in der Umverteilung, die im Augenblick niemand wirklich anzugehen traut.

Lunacek: Wir Grünen täten schon. Wenn wir könnten. Die EU selbst hat wenig Kompetenz im Bereich des Sozialen. Das wollten die Mitgliedsländer alles bei sich behalten – zum Teil aus der sinnvollen Überlegung heraus, dass jene Staaten, die ein stärkeres Sozialsystem haben, dieses dann zurückfahren müssten. Aber wir haben auch einiges positiv umgesetzt. Etwa die Antidiskriminierungsrichtlinien ...

Schalko: Aber für eine gemeinsame Sozialpolitik bräuchte es ja auch eine gemeinsame Fiskalpolitik?

Lunacek: Das stimmt. Das war der große Sündenfall bei der Schaffung des Euro, dass keine gemeinsame Wirtschaftspolitik und Steuerpolitik mit verabschiedet wurde.

Schalko: Aber das hieße ja eigentlich eine Aufgabe der Souveränitäten der Nationalstaaten. An dem schummelt man sich ja immer so ein bisschen vorbei. Sind Sie für die Aufgabe der Souveränität der Nationalstaaten zugunsten einer europaweiten Sozialpolitik und Fiskalpolitik?

Lunacek: Tendenziell muss es in die Richtung gehen. Die Verwerfungen, die wir rund um den Euro erlebt haben, hatten auch damit zu tun, dass es keine gemeinsame Politik gab. Etwa auch die Vergemeinschaftung der Schulden, wogegen Merkel/Schäuble sich noch immer wehren. Zur Zeit des Hyposkandals, von FPÖ, Haider und Co verursacht, ist ja auch niemand auf die Idee gekommen zu sagen: Wir helfen dem bankrotten Kärnten nicht. Oder dass Kärnten aus Österreich aussteigen soll. Bei Griechenland wurde sehr wohl diskutiert, das Land aus der Eurozone zu werfen.

STANDARD: Die Finanztransaktionssteuer wurde zeitweise von Werner Faymann und der SPÖ getragen. Martin Schulz hat sich ja auch stark dafür eingesetzt. Im deutschen Wahlkampf kommt es aber nicht mehr vor.

Ulrike Lunacek: "Zur Zeit des Hypo-skandals ist auch niemand auf die Idee gekommen zu sagen: Wir helfen dem bankrotten Kärnten nicht."
Foto: Matthias Cremer

Lunacek: Ich hoffe, wir können sie nach der deutschen und österreichischen Wahl wiederbeleben, vielleicht auch mit Macron. Damit würde gleichzeitig hochriskante Spekulation verhindert und Geld in die europäischen Budgets für sozialen Ausgleich fließen.

Schalko: Zudem gibt es ja noch die alte Idee, dass Konzerne dort, wo sie Geschäfte machen, auch Steuern zahlen müssen. Im digitalen Zeitalter, wo es die Betriebsstätte an sich ja oft nicht mehr gibt, müsste man sagen: Derjenige, der den Markt gebraucht, muss sozusagen eine Miete für den Markt zahlen.

Lunacek: Da ist auch viel Geld drin. Da sind Milliarden drin, die wir brauchen könnten, wenn sich die Europäische Union auch im Sozialbereich engagiert. Eine Möglichkeit wäre die europäische Arbeitslosenversicherung. Wenn jemand arbeitslos wird, dann würde er oder sie auch von der europäischen Ebene etwas bekommen. Das würde dann das Gefühl "Das sind wir, die EU" verstärken.

DER STANDARD

STANDARD: Das Gefühl wäre wohl eher: Wir Österreicher würden mehr einzahlen und irgendjemand anderer holt sich dann das Geld.

Lunacek: Das ist einer der Gründe, warum ich jetzt in die Innenpolitik zurückgehe. Ich will, dass die EU endlich als Solidargemeinschaft gesehen wird und auch so funktioniert.

Schalko: Wie stehen Sie zum bedingungslosen Grundeinkommen? In zehn Jahren wird in Europa eine immense Arbeitslosigkeit herrschen ...

Lunacek: Wir haben schon vor zehn Jahren festgelegt, dass wir uns nicht für das bedingungslose Grundeinkommen einsetzen, sondern für eine bedarfsorientierte Grundsicherung. In unserer Gesellschaft, ob es uns jetzt gefällt oder nicht, ist es ein Wert, der auch für das Selbstwertgefühl wichtig ist, einer Beschäftigung nachzugehen. Wo du siehst, du kriegst etwas dafür. Und das Zweite, was Sie angesprochen haben: Ich glaube, es wird uns die Arbeit nicht ausgehen. Man muss sie aber anders verteilen. Ich bin dagegen, dass wir abends, nachts immer zu erreichen sind und auch diese Erreichbarkeit eingefordert werden kann. Da brauchen wir ein bisschen eine Verlangsamung. Weil die Leute sich die Zeit doch öfters ganz anders einteilen wollen, wann sie arbeiten, wo sie arbeiten, wie sie arbeiten.

STANDARD: Das hätten die Grünen mitgestalten können, wenn sie 2002/03 in die Regierung gegangen wären. War es rückblickend ein Fehler, damals abzubrechen?

Lunacek: Es war so, dass Schüssel nicht wollte. Er wollte uns keinen Punkt lassen, den wir gebraucht hätten. Das hätte geheißen: keine Eurofighter (das hätte uns einiges erspart), keine Studiengebühren und noch ein paar andere Punkte. Es gab seitens der ÖVP keine Bereitschaft dazu. Jetzt ist es so, dass vielleicht eine Dreierkoalition ins Gespräch kommt. Ich kämpfe jetzt darum, dass wir bis zum 15. Oktober so zulegen, dass wir ein Wörtchen mitzureden haben, wie die nächste Regierung aussieht.

STANDARD: Sie wollen in die Regierung?

Lunacek: Ich möchte, dass Österreich in Zukunft ein starkes Österreich, ein soziales und ökologisches ist. Dafür möchte ich in die Regierung, aber nicht um jeden Preis. Wenn das nicht gelingt, sind wir eine starke Oppositionspartei. Das wir das können, haben wir schon bewiesen. (Conrad Seidl, 16.9.2017)