Nachdem wir mit den letzten beiden Blogbeiträgen über Videospiele und "Game of Thrones" in zwei Jagdgebieten gewildert haben, die man auf den ersten Blick vielleicht nicht unbedingt mit der Geschichtswissenschaft verbindet, kehren wir zu einem der ureigensten Themen der aktuellen Zeitgeschichteforschung zurück, der Oral History. Gemeinsam mit Studierenden der Universität Wien haben wir im vergangenen Jahr ein Oral-History-Projekt durchgeführt, das wir nicht zuletzt aufgrund seiner speziellen Natur näher vorstellen wollen.

Im Rahmen dieses Forschungsprojekts führten Studierende qualitative Interviews mit Kindern im Alter von 13 bis 14 Jahren zu den Themenbereichen Geschlecht, Familie, Schule, Freizeit, Heimat, Religion, Vergangenheit und Zukunft. Die (geschichts-)wissenschaftliche Erfassung der Lebenswelten dieser Kinder ist von einigen Besonderheiten gekennzeichnet: Zum Beispiel haben fast alle der befragten Kinder Migrationshintergrund und besuchen eine Schule mit außergewöhnlich hohem Anteil an Schülern und Schülerinnen mit anderen Erstsprachen als Deutsch. Kindern wie ihnen bescheinigen staatliche Institutionen "bildungsrelevante Risikolagen" und "unvorteilhafte Ausgangsbedingungen" für ihr Erwachsenenleben. Aus soziologischer Perspektive ist in diesem Zusammenhang auch von den "stummen Zwängen der Verhältnisse" und "unsichtbaren Händen" sozialer Benachteiligung die Rede.

Klischees und subjektive Lebenswelten

Ein wesentliches Ziel der Untersuchungen war, der häufig wahrgenommenen Ohnmacht der befragten Kinder, ihren Wertvorstellungen und Interessen Gehör zu verschaffen, entgegenzuwirken und ihre subjektive Erfahrungswelt zukünftiger Forschung zugänglich zu machen. Dass die befragten Kinder teilweise stark eigenständige, mitunter explizit emanzipatorische und sehr reflektierte Wahrnehmungen und Aneignungen ihrer Umwelt vornehmen, kommt in zahlreichen Details ihrer Erzählungen deutlich zum Ausdruck.

Wir waren überrascht, wie eigenständig die befragten Kinder ihre Umwelt wahrnehmen und bewerten. Zwar folgen Sie in Vielem den Einstellungen ihrer Eltern – jenes Kind, von dem das Zitat im Titel stammt, wird in einer kemalistischen Familie groß, in der die gegenwärtige Entwicklung der Türkei kritisch beäugt wird – doch noch häufiger äußerten sie ihre ganz eigene Meinung. Auffällig ist, dass sich alle dazu befragten Kinder mit den mehrheitlich traditionellen religiösen Vorstellungen ihrer Eltern auseinandersetzen (müssen), diese aber für sich selbst nicht als bedeutsam empfinden: "Die Religion ist nicht so wichtig für mich. Ich mach’s zwar trotzdem für meine Mutter und so, […] aber sie ist mir nicht so wichtig." Manche religiös motivierte soziale Praxis wird von den Kindern achselzuckend hingenommen: "Es muss halt sein." "Warum?" "Weil’s halt so ist."

Kinder in der Türkei mit einem Bild Atatürks. Viele Kinder übernehmen das Weltbild ihrer Eltern.
Foto: REUTERS/Umit Bektas

Unsichere Zukunftsträume

Auch die Vorstellungen der Kinder über Geschlechterrollen, Familie und Heimat unterscheiden sich von jenen ihrer Eltern: "Ich finde es nicht gut, wenn man sagt, Haushalt ist Frauensache und die Männer sollen arbeiten gehen, so wie das in Serbien ist", sagt einer der befragten Buben und ist sich darin mit seinen Mitschülern weitgehend einig. Ihre Heimat sehen alle befragten Kinder in Österreich. Die Herkunftsländer ihrer Familien kennen sie allenfalls als Urlaubsland oder Sehnsuchtsort der Eltern. Nur, wenn die österreichische Fußballnationalmannschaft gegen jene des Herkunftslandes spielt, sind sie unentschlossen, wem sie die Daumen halten sollen.

So sehr viele der Eltern ihren Heimatländern verhaftet sind, wünschen sie sich für ihre Kinder eine bessere Zukunft in Österreich. Man müsse sich anstrengen, denn "meine Mutter hat gesagt, dass ich nicht im Kalten arbeiten soll wie sie." Die Zukunftsträume der Kinder folgen klassisch kleinbürgerlichen Vorstellungen: Arbeit, eine glückliche Familie, ein Haus, ein Auto – das verbinden viele der Kinder mit einem erfüllten Leben. Dass ihnen angesichts ihrer Startnachteile Armut und Unsicherheit drohen, wissen die Kinder sehr wohl, aber: "Es kann ja alles noch besser werden." 

Kinderstimmen statt Grabsteine

Eine Besonderheit des Projekts liegt darin, dass die Gespräche mit den Kindern allesamt durch Studierende geführt wurden, woraus sich besondere Synergien ergaben. Zum einen bekamen die Kindern die Möglichkeit, einmal gehört zu werden und ihre subjektiven Lebenswelten für die Nachwelt zugänglich zu machen. Zum anderen konnten die Studierenden durch forschendes Lernen erste wissenschaftliche Praxiserfahrungen machen und selbst Teil eines Forschungsprojekts sein, anstatt immer nur über die Forschungen anderer zu hören. Auf Basis der Interviews verfassten die Studierenden selbst wissenschaftliche Artikel, die unter dem Titel "Brennpunkte" 2017 im Verlag "Ferstl&Perz" publiziert wurden. Die Gespräche selbst sind zur Gänze im Langzeitdatenarchiv der Universität Wien gespeichert und dadurch auch für zukünftige Forschungen zugänglich.

Traditionell sieht sich die Geschichtswissenschaft mit dem Problem konfrontiert, dass ihre Quellen häufig nur einen sehr kleinen Ausschnitt der untersuchten Gesellschaften repräsentieren. Um nur ein Beispiel zu nennen: In manchen Forschungsfeldern der Geschichte der Antike und des Mittelalters stellen Grabsteine die wichtigste Quellengruppe dar. Man stelle sich vor, zu welch seltsamen Schlüssen Historikerinnen und Historiker der Zukunft über unsere gegenwärtige Gesellschaft gelangen würden, könnten sie nur unsere Grabsteine untersuchen. Die allermeisten Menschen hinterlassen keine Quellen, die der historische Forschung zugänglich sind. Das betrifft insbesondere marginalisierte gesellschaftliche Gruppen. (Martin Tschiggerl, Thomas Walach, 19.9.2017)

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