Klopfen die Sprache ab: Johanna Orsini-Rosenberg, Paul Skrepek.

Foto: Judith Stehlik

Wien – Von 1932 bis 1964, also exakt eine Weltsekunde lang, besaß die Stadt Wien den elegantesten, gescheitesten und dabei fortschrittlichsten Dichter überhaupt. Der Hausmeistersohn Konrad Bayer gehörte zur handverlesenen Schar der jegliche bürgerliche Überlieferung kategorisch zurückweisenden Rebellen. Als deren Ahnherr mag der rauschhafte Franzose Arthur Rimbaud gelten. Im losen Verbund der Wiener Gruppe war Bayer für alle Fragen der Wirklichkeitsverneinung zuständig. Ein Solipsist, der stolz erklärte, die Welt sei alles, was lediglich für ihn und nicht für die Anderen der Fall sei.

Trailer von Angela Christlieb.
TAG

Wer Bayer in das Theater an der Gumpendorfer Straße (TAG) hievt, wird daher zum Akteur eines Weltexperiments: im Maßstab des individuell Verkürzten und regional Verkleinerten. Texte wie der unvollendete Roman der sechste sinn treiben das Spiel der Sinngebung – bei gleichzeitig akutem Bedeutungsverlust – lustvoll auf die Spitze. Und doch ist kaum etwas Traurigeres denkbar als der Auftritt zweier kurioser Figuren unter der Bedeckung von Pelzmützen und Regenpelerinen. Der Abend nennt sich Auf der Suche nach dem sechsten Sinn.

Die trostlose Übermacht Konvention

Die beiden Herrschaften sind Fernreisende in Sachen Nahsicht. Des einen (Paul Skrepek) Brille sind groß wie Lupengläser. Er wechselt bald hinüber an die Doppelhalsgitarre. Texte wie der Bayer-Evergreen glaubst i bin bled werden von ihm wie Sachargumente dargeboten: poetisch stichhaltige Einwände, Brandartikel gegen die trostlose Übermacht konventionellen Verstehens.

Die famose Schauspielerin Johanna Orsini-Rosenberg bildet ein weiteres Alias zu den zahlreichen Konrad-Bayer-Verpuppungen, die dieser, ein gewissenhafter Verfremdungskünstler seiner selbst, im Text von der sechste sinn versteckt hat. Mit grauer Mähne und grimmig entschlossenem Blick erprobt sie Methoden, Mittel und Wege der Verständigung. Wer zum Beispiel A sagt, muss irgendwann auch Z sagen. Womit zunächst nichts gesagt ist, außer dass es eben so ist.

Man begegnet flüchtig Romanfiguren wie Franz Goldenberg, Nina, Braunschweiger. Ihnen eignet das Malheur, Platzhalter zu sein, bloße Spielmarken in Abläufen, die von der Sprache – mehr: ihrem Gebrauch – im Vorhinein festgelegt sind. Der sechste Sinn wäre demgegenüber die plötzliche Einsicht in die vollständige Künstlichkeit der Wirklichkeit.

Kleines Quartier des Weltgeists

Also packt Orsini-Rosenberg in Elisabeth Gabriels kluger Regie noch mehr Bayer in die Ruine des ohnehin offenen Romans. Sie reißt Glanznummern wie den karl – sämtliche Substantive eines Textes werden durch den Vornamen Karl ersetzt! – mit sich mit und kippt mitsamt dem Tisch nach hinten um.

Sie sprachmusiziert mit dem Knistern eines Grammofons um die Wette. Eine Maschine aus Riemen und Kolben setzt zaghaft ein Schlagzeug in Bewegung. "Die blaue wiese des sees" glitzert einzig durch die Macht der Suggestion. Videobilder tragen das Flair eines in Sack und Asche gekleideten Nachkriegswiens in den Gumpendorfer Keller.

Ein Stück Apfelstrudel wird einzig durch die Macht des wissenschaftlichen Vortrags dem lustvollen Verzehr zugeführt. Ein grandioser kleiner Abend macht noch einmal die Magie des Bayer'schen Denkens und Dichtens im Übermaß deutlich. Denn nur wer die Grenzen der Sprache überwindet, den Irrsinn ihrer blinden Vorschreibungen und blödsinnigen Kategorien, wird einen Weg hinaus ins Freie finden. Und bis es soweit ist, hat der Weltgeist im TAG sein kleines Quartier. Frenetischer Applaus. (Ronald Pohl, 17.9.2017)