In den verfüllten Bombentrichtern könnten nach wie vor Opfer begraben sein, vermuten Archäologen.

Foto: Possert

Graz – Es ist ein sensibles, historisch belastetes Terrain, das die Grazer Stadtregierung bisher nur ungern betrat: das Areal des ehemaligen NS-Lagers am Grünanger im Wohnbezirk Liebenau. Es war das größte Zwangsarbeiterlager im Stadtgebiet, in dem mehr als 5.000 Frauen und Männer interniert waren und tausende jüdische Gefangene Station machten, ehe sie 1945 ins KZ Mauthausen getrieben wurden.

Der Großteil des Areals wurde nach 1945 ohne viel Aufhebens von der Stadt verbaut. Vor wenigen Monaten, mit dem Bau des nahen Murkraftwerks, wurde dieses Stadtviertel wieder in Erinnerung gerufen. Archäologen, die kürzlich auf Baurelikte des Lagers gestoßen sind, vermuten, dass dort noch immer Opfer vergraben sein könnten – worauf der im Bezirk tätige Arzt Rainer Possert, der sich aufgrund zahlreicher Patientenhinweise der Sache angenommen hatte, seit langem aufmerksam macht.

Die ÖVP-FPÖ-Stadtregierung lehnt es bisher jedoch ab, den Hinweisen mittels Grabungen nachzugehen – mit dem Hinweis, dass es keine Beweise für mögliche Opfer gebe und man nicht "auf Zuruf" agieren wolle.

Kein Wort über Opfer

In der Gemeinderatssitzung am Donnerstag lieferte der für die Bauagenden zuständige Stadtrat Mario Eustacchio (FPÖ) nun eine Begründung für die Zurückhaltung der Stadt. Laut einem entsprechenden Bericht an den Gemeinderat sollen auf dem fraglichen Gelände in den nächsten Jahren nicht nur Schrebergärten, sondern mehr als 500 neue Sozialwohnungen errichtet werden.

In der ersten Bauphase sind 13 Wohnhäuser mit 60 Wohneinheiten geplant. Eustacchio nimmt in der Vorlage nur kurz Bezug auf die Geschichte: "Historische Auszüge belegen die lagerartige Bebauung von eingeschoßigen und ebenerdigen Holzbaracken und unterirdischen Verbindungsgängen zu Unterbringung und Versorgung von Zwangsarbeitern während der NS-Zeit." Kein Wort über die unzähligen Opfer.

Probebohrungen gefordert

Spät, sehr spät beginnt sich jedenfalls nun auch der Gemeinderat für die Sache zu interessieren. Die Grünen wollen endlich Klarheit und fordern eine sofortige Nachdenkpause und einen Stopp der Planungen sowie die systematische Erforschung des Lagers. "Viele Aspekte des Lagers wie beispielsweise die kolportierten Zwangsabtreibungen wie auch die gesamte Frühphase des Lagers sind noch wenig beforscht. Probebohrungen können außerdem Klarheit darüber bringen, ob noch mehr Leichen in der Erde verscharrt wurden", sagt die Grünen-Stadtpolitikerin Manuela Wutte.

Auch der archäologische Leiter des Bundesdenkmalamts, Bernhard Hebert, hatte im STANDARD-Gespräch angeregt, endlich Klarheit zu schaffen: "Es wäre sicher eine gute Idee, wenn alle noch vorhandenen offenen Flächen des Lagers mittels Probebohrungen untersucht werden, um ein für alle Mal nachzuschauen, ob die Befürchtungen, dass hier noch menschliche Überreste vergraben sind, stimmen oder nicht."

"Strafe" für Gedenkarbeit

Für Rainer Possert und dessen interdisziplinäres Sozialmedizinisches Zentrum (SMZ) hat das Engagement für eine Aufarbeitung dieses Kapitels Grazer NS-Geschichte drastische Folgen. Dem Zentrum, das auch in die "Stadtteilarbeit" eingebunden ist, werden von der Stadt sämtliche Subventionen gestrichen. Possert: "Als Strafe offenbar. Uns wurde mitgeteilt, das SMZ würde durch die Gedenkarbeit einen Wohnbau am Grünanger verhindern." (Walter Müller, 21.9.2017)