Es ist Wochenmarkt am Ufer des Landwehrkanals in Berlin-Neukölln. Türkenmarkt. Mustafa, 43, hochaufgeschossen, kurzgeschorener Bart, schütteres Haar, ist an einem Stand stehengeblieben, der Socken feilbietet. Drei Paar für einen Euro, alle Größen, schwarz, weiß, grau, gepunktet. "Schreib' das auf", sagt er: "Die einfachen Menschen hier, die können doch gar nichts dafür." Es läuft nicht mehr rund zwischen Berlin und Ankara, den Deutschen und den Türken. Im Fernsehen, sagt Mustafa, hörten die Deutschen die ganze Zeit, dass alle Türken wie Erdoğan sind. Und: "Ich bin aber kein Erdoğan, ich bin einfach nur ein Mensch."

Der türkische Präsident polarisiert – auch in Berlin-Neukölln.
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An diesem Recep Tayyip Erdoğan, dem türkischen Präsidenten, scheiden sich die Geister. Jetzt, wo in Deutschland gewählt wird, liegen dies- und jenseits des Bosporus die Nerven blank. Auch in Neukölln. Oder gerade in Neukölln. Galt das 320.000 Einwohner zählende Viertel bis vor kurzem als Berlins Problembezirk schlechthin, prägt heute neben Multikulti eine rasante Gentrifizierung das Bild in manchen Kiezen. Für AfD-Rechtsaußen Björn Höcke ist Neukölln schon längst "kein Deutschland mehr". Bei dem umstrittenen Referendum im April erzielte Erdoğans Ja-Lager in dessen Hochburg Deutschland 63,1 Prozent der Stimmen. In Berlin, wo auch viele Kurden, Aleviten und linke Türken leben, standen Ja und Nein beinahe pari.

Wie steht es um die Türken in Deutschland, einen Tag vor der Bundestagswahl?

Es ist kompliziert. Seit der formellen Anerkennung des Völkermords an den Armeniern durch das Osmanische Reich im Bundestag vor einem Jahr eskaliert der Konflikt zwischen Deutschland und der Türkei zusehends: Streit um Wahlkampfauftritte türkischer Minister in Deutschland, Verhaftungen deutscher Staatsbürger, gegenseitige Reisewarnungen. Im August schließlich rief Erdoğan vom 2.000 Kilometer entfernten Ankara aus dazu auf, nicht die "Feinde der Türkei" zu wählen. Konkret: CDU, SPD, Grüne.

SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz wiederum pocht im Wahlkampf auf ein Ende der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. Und irgendwo dazwischen die insgesamt 2,8 Millionen Deutschtürken, von denen jeder Zweite einen deutschen Pass besitzt und davon 720.000 wahlberechtigt sind. Geht es am Sonntag knapp zu, könnte es auf ihre Stimmen besonders ankommen.

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Nicht nur Türkinnen kaufen auf dem Markt am Kanal ein wie auf diesem Archivbild, mittlerweile hat die Gentrifizierung auch das Maybachufer erreicht.
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Frühlingsluft

Am Maybachufer ist an diesem Vormittag von Nervosität wenig zu merken. Jedenfalls nicht auf den ersten Blick. Es riecht, zu Beginn des Herbsts, nach Frühling. Die Sonne scheint. Am südlichen Ufer des Landwehrkanals mischen sich spanische Touristen, türkische Mütter mit Kopf- und deutsche Väter mit Tragetuch. In Neukölln, für manche eine No-Go-Area, wuselt es.

Am Sockenstand erklärt Mustafa, der am Sonntag kein Kreuz machen darf, dass die CDU gute Arbeit leiste. Bessere jedenfalls als die SPD, die nur so tue als setze sie sich für Ausländer ein. Auch deshalb spricht er von "meiner Kanzlerin", wenn von Angela Merkel die Rede ist. Lange galten die Stimmen der ehemaligen Gastarbeiter als sichere Bank für die Sozialdemokraten. Doch die Christdemokraten holen auf. Laut einer Umfrage der Europäisch-Türkischen Stiftung für Bildung und wissenschaftliche Forschung dürfte die SPD mit 45 Prozent gegenüber 2013 neun Prozent einbüßen, die CDU hingegen mit zwölf statt neun Prozent etwas Boden gutmachen.

"Etwa die AfD?"

Ein paar Marktstände weiter, kurz vor dem Kottbusser Damm, verkauft Zülal im "Bereket Pazari" Oliven, Schafskäse und Sucuk-Wurst. Die 25-Jährige ist in Berlin geboren, ihre Eltern in der Türkei. Kopftuch trägt sie so wie ihre Kollegin, die ihren Namen nicht genannt wissen will, keines. "Ich wähle die CDU, wen denn sonst, die AfD etwa?", sagt sie. Viele ihrer Bekannten hätten bisher für die SPD gestimmt, weil ihnen das "christlich" im Parteinamen der CDU nicht zugesagt habe. Dass sich die Berliner Türken bei der Bundestagswahl auf Kommandos aus Ankara hören, glaubt sie nicht. Wer in Deutschland regiert, sei Sache der Deutschen, findet sie. "Erdoğan lebt hier nicht, warum mischt er sich ein?", sagt ihre Kollegin.

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Im westdeutschen Bundesland Nordrhein-Westfalen hofft eine Kleinpartei auf die Popularität des türkischen Präsidenten bei deutschtürkischen Wählern.
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Als der Name des türkischen Präsidenten fällt, wird der Standbetreiber von gegenüber – "nenn' mich Muhammad Ali" – hellhörig. "Man ist hier automatisch für Erdoğan", sagt er. Er zündet sich eine Zigarette an und erklärt, warum. Etwa, weil sich die deutsche Politik ständig in türkische Angelegenheiten einmische. Von ihm aus könne auch die AfD regieren. "Wenn man so aussieht wie ich, wird man sowieso nicht akzeptiert, egal wer gewinnt." Dass die Kleinpartei Allianz Deutscher Demokraten (ADD), die in Nordrhein-Westfalen mit dem Konterfei Erdoğans wirbt, so wenig Beachtung in den Medien erfährt, ist für Muhammad, dessen Statur tatsächlich an einen Schwergewichtsboxer erinnert und der seinen echten Namen nicht nennen möchte, nur ein weiterer Beweis für die Vorurteile der Deutschen. "Wo bleibt da die Demokratie", fragt er.

"Süpermann"

Auf einen anderen Erdoğan können sich Neuköllns Türken hingegen weit eher einigen. Der Psychologe Kazim Erdoğan, 64, seit 1974 in Berlin, Spitzname "Süpermann", betreibt hier seit zehn Jahren eine Selbsthilfegruppe für türkische Männer. Und ist so nahe am Puls der türkischen Community wie kaum ein anderer. Er glaubt nicht, dass die Parolen seines Namensvetters aus Ankara in Deutschland verfangen. "95 Prozent können zwischen der Politik in Deutschland und der Politik in der Türkei unterscheiden. Ein paar Tausend, vor allem Anhänger der AKP (die türkische Regierungspartei, Anm.), werden sich aber wohl anstecken lassen."

2013 verlieh ihm Bundespräsident Joachim Gauck den Bundesverdienstorden. Dass die Verwerfungen der deutschen Innenpolitik auch an den Deutschtürken nicht spurlos vorübergehen, davon ist Erdoğan überzeugt. Etwa beim Thema Flüchtlinge. "Auch manche der Männer in meiner Gruppe haben Angst, dass ihre Wohnungen teurer werden oder dass Billigarbeiter ihre Jobs übernehmen." Zudem treffe das negative Bild, das die AfD von Flüchtlingen zeichnet, auch den Deutschtürken, der in der vierten Generation hier lebt. "Natürlich fühlen sich einige dann hier nicht mehr erwünscht." Fast die Hälfte der Deutschtürken gilt Studien zufolge zudem als "religiös" oder "sehr religiös", die meisten kommen aus konservativen, ursprünglich ländlich geprägten Familien. Besonders in diesem Milieu fühle man sich von deutschen Parteien nicht repräsentiert, sagt der Psychologe.

Mehr Gespräche

Was es brauche, sei mehr Kommunikation. Die Gesprächskanäle, wie sie Kanzlerin Merkel zur türkischen Regierung offenhalten will: im Alltag von Kazim Erdoğan sind sie längst zugeschüttet. Türken und Deutsche redeten fast nicht mehr miteinander, nur übereinander. "Dabei sollten wir die Dinge, die klappen, genauso hochhalten wie die Dinge, die nicht klappen. Es gibt zum Beispiel allein in der Karl-Marx-Straße sechzig türkischstämmige Ärzte und Ärztinnen. Das ist doch ein Erfolg." (Florian Niederndorfer aus Berlin, 23.9.2017)