Wien – Dass Nicole K. (Name geändert) psychische Probleme hat, steht außer Zweifel. Die Frage, mit der sich der Schöffensenat unter Vorsitz von Andrea Wolfrum beschäftigen muss, ist, ob Martin B. der Auslöser dafür ist. Indem er K. im Zeitraum von Sommer 2002 bis Sommer 2003 immer wieder sexuell missbraucht hat, als sie sechs Jahre alt war.

Aufgekommen ist der Fall Anfang März. Die heute 21-jährige Studentin wurde damals bei einem Ladendiebstahl erwischt. Den Polizistinnen fiel auf, dass die junge Frau einen psychisch belasteten Eindruck machte, und sie fragten nach. Worauf K. laut Aktenvermerk erzählte, sie sei im Februar 2013 in Wien vergewaltigt worden. Drei Wochen später wiederholte sie das bei einer Zeugenaussage und berichtete auch von einer erlittenen Vergewaltigung in Italien – und sagte zudem, dass sie als Kind vom Freund der Mutter missbraucht worden sei.

Drei Jahre lang Beziehung

Ein Vorwurf, den der 51-jährige Angeklagte überhaupt nicht verstehen kann, wie er nun sagt. Er habe mit der Mutter des Mädchens drei Jahre lang eine Beziehung gehabt. "Ich habe sie zwei, drei Mal pro Woche gesehen, am Wochenende haben wir gemeinsame Ausflüge gemacht." Sein Verhältnis zu dem Kind sei normal gewesen, beteuert der Unbescholtene. "Sie ist oft zu uns ins Bett schlafen gekommen. Und da die Mutter vor mir aufstand, haben wir noch ferngesehen oder umadumgeblödelt", schildert er.

"Sind Sie oder das Kind dabei je nackt gewesen?", will die Vorsitzende wissen. "Nein, ich hatte immer einen Pyjama an." – "Gab es Situationen, die man vielleicht falsch deuten hätte können?" – "Nein." – "Sie wissen ja, dass Frau K. behauptet, es sei 'Hoppe, hoppe Reiter' gespielt worden?" – "Ja, ich habe sie vielleicht auf dem Schoß gehabt, aber es war nie etwas Sexuelles dabei."

"Geschichte in Italien"

"Warum soll sie dann solche Anschuldigungen erheben?" – "Ich glaube, das hat mit der Geschichte in Italien zu tun", kann der Angestellte nur vermuten. Er kann sich auch erinnern, dass ihm K.s Mutter bei der Trennung 2003 vorgeworfen habe, er belästige sie und die Tochter. "Ich habe nachgefragt, aber sie hat nie gesagt, was sie meinte", behauptet er.

Die Geschichte, die die 59 Jahre alte Mutter als Zeugin wortreich und ausschweifend erzählt, klingt ganz anders. Und sie zeigt, wenn sie stimmt, dass Menschen nicht unbedingt immer rational handeln.

"Hatten Sie irgendwann ein komisches Gefühl?", fragt die Vorsitzende. "Einmal am Samstag bin ich vom Einkaufen heimgekommen, da war es so verdächtig ruhig. Ich habe dann geschaut, er lag im Bett. Und plötzlich hat meine Tochter die Bettdecke zurückgeschlagen – sie saß nackt auf seinen Knien, und er war auch nackt!"

Ihre Reaktion: Sie schmiss B. hinaus. Das Kind bestand aber darauf, man habe nur gespielt; da sie den Angeklagten auch als eine Art Vaterersatz sah, war die Beziehungspause nicht lange. "Er hat gesagt, es tut ihm leid, und es kommt nicht wieder vor", sagt die Zeugin.

Kratzer im Genitalbereich

Rund drei Monate später habe sie bei einem Badeausflug einen Kratzer im Genitalbereich ihrer Tochter entdeckt. Das Kind habe darauf gesagt, es sei nichts gewesen. Weitere drei Wochen später habe sie dem Kind eröffnet, dass sie sich von B. trennen wolle. Die Sechsjährige sei einverstanden gewesen. "Sie hat gesagt: 'Weißt du, was er mit mir gemacht hat?'" – "Was hat sie erzählt?" – "Dass er sie immer ins Bett trägt, ihr die Kleider wegnimmt, dass vorne bei ihm was rauskommt, und er gesagt hat, das sei Almdudler."

Später behauptet die Frau auch, das Kind habe dezidiert behauptet, der Angeklagte habe ihr den Kratzer an den Geschlechtsteilen zugefügt. Was nicht nur Wolfrum und Verteidiger Philipp Winkler, sondern auch eine Laienrichterin stutzig macht. Denn weder Nicole K. noch ihre Mutter haben das bei der Polizei je angegeben. Und vor allem: Die Mutter zeigte B. damals auch nicht an.

"Da hätten Sie ja einen Beweis gehabt!", wirft die Schöffin ein. "Ich hatte noch keinen konkreten Verdacht, dass er sie missbraucht", meint die Zeugin. "Aber Sie haben ihn ja davor angeblich schon nackt im Bett mit Ihrer Tochter erwischt!" – "Wenn sich das nicht so zerredet hätte ...", bleibt die Zeugin vage.

Widersprüchliche Aussagen

Etwas widersprüchlich sind auch die Antworten auf die Frage, wie sie die Schule von ihrem Verdacht informiert hat. Frau K. sagt, nach dem Besuch einer Kinderschutzeinrichtung habe sie sich an die Direktorin gewandt und explizit von einem Missbrauch gesprochen. Anzeige wollte sie aber keine erstatten, da, wie sie sagt, die Tochter den Wunsch gehabt habe, "möglichst schnell zu vergessen".

Die Klassenlehrerin des Mädchens erinnert sich dagegen daran, die Mutter sei bei einem Elterngespräch auf sie und ihre Kollegin zugekommen. Es sei um eine beendete Beziehung gegangen und unsittliche Berührungen. Ob sie diese Information weitergeleitet hat, weiß sie nicht mehr. Die Direktorin sagt, sie sei weder von der Mutter noch von einer Lehrerin in so einer Sache kontaktiert worden. Wäre es so gewesen, hätte sie in jedem Fall das Jugendamt verständigt, das habe sie in ihrer Karriere immer wieder gemacht.

Frau K. bleibt jedenfalls auf mehrmalige Nachfrage dabei, sie habe all die Jahre keine Anzeige erstattet, da das Kind das nicht wollte. Auch nicht, als das Mädchen in die Pubertät kam und depressiv wurde, mit 14 Jahren eine Alkoholvergiftung erlitt und von Flashbacks an den Missbrauch berichtete, und auch nicht, als sie mit 17 Essstörungen und Panikattacken entwickelte.

Die gefilmte kontradiktorische Einvernahme der jungen Frau wird unter Ausschluss der Öffentlichkeit vorgespielt. Für ein psychologisches Gutachten wird schließlich vertagt. (Michael Möseneder, 26.9.2017)