Die New Yorker Pavol Liska und Kelly Copper haben sich gut im Mürztal eingelebt. Über zwei Jahre recherchierten und schrieben sie immer wieder vor Ort für das Großprojekt.

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Graz – Wer in der Obersteiermark zwischen Mürzzuschlag und Neuberg Zeuge eines riesigen Verkehrsunfalls wird oder abends einer Horde Zombies begegnet, darf hoffen, dass er nur auf ein Filmset des Nature Theater of Oklahoma geraten ist. An den kommenden drei Wochenenden wird in der Region der Roman Die Kinder der Toten von Elfriede Jelinek verfilmt. Schon jetzt wird die gleichnamige Produktion nicht nur als das Großereignis der heurigen Ausgabe des Festivals gesehen, es dürfte als eine der legendärsten, aufwendigsten, aber nicht teuersten Arbeiten in die Geschichte des Steirischen Herbsts eingehen.

Ausgerechnet der auch für Literaturliebhaber herausfordernde 666-seitige Roman über Untote, der über weite Teile in der erwähnten Gegend spielt, aus der Jelinek auch stammt, soll in einem Stummfilm erzählt werden. Die New Yorker Truppe Nature Theater of Oklahoma ist seit Jahren Gast beim Steirischen Herbst und hat sich in den vergangenen Jahren in so ziemlich jedem Genre versucht. Etwa in der Performance-Reihe Life and Times. Zuletzt inszenierten sie am Rhein mit Laien eine Adaption der Nibelungen unter dem Titel Deutschland – Jahr 2071. "Veronica Kaup-Hasler war für uns wichtig, weil sie uns als Erste dem europäischen Publikum bekanntmachte", sagt Pavol Liska beim Gespräch mit Partnerin Kelly Copper und dem Standard in einer Landgasthausstube in Neuberg.

Annäherung an die Region

Dass sich Jelineks Untoten-Roman auch mit NS-Tätern und Opfern des Holocaust auseinandersetzt, ist eine Interpretation, die für Liska und Copper zu kurz greift. "Wir haben etwas gesucht, das in diese Gegend passt", erklärt Liska, "da hat Veronica uns diesen Roman vorgeschlagen." Man näherte sich dem Text über Entwürfe der Übersetzerin und Zusammenfassungen von Kaup-Hasler und Claus Philipp, der dramaturgisch das Feld bereitete. Denn die englische Übersetzung des Romans ist 22 Jahre nach seinem Erscheinen noch nicht fertig. Jelinek gab den New Yorkern vollkommen freie Hand. Liska und Copper besuchten die Gegend über zwei Jahre immer wieder.

Die Dreharbeiten selbst, an denen mittlerweile, teils aufgrund von Mundpropaganda, Hunderte – auch aus der Umgebung – teilnehmen, sind eigentlich der Hauptevent. Worum wird es nun in dem Film gehen, den man vor Ende des Festivals gar nicht zu sehen bekommt? "Es geht um die Landschaft, die Leute, die in ihr leben, und Elfriedes Buch", sagt Liska, "und um unsere Erfahrungen und Eindrücke hier." Da Jelinek ihnen "die Verantwortung abnahm, das Buch getreulich zu adaptieren, können wir sehr spontan reagieren", ergänzt Copper. "Vieles, was wir hier kennengelernt haben, ist in den Plot gekommen", erinnert sie sich, "etwa der Almabtrieb, den wir sahen, als wir erstmals ankamen." Ein wesentlicher Aspekt war für sie das Verlassen der Blackbox des Theaterraums. Hier dehnt sich dieser Raum auf Berg und Tal aus.

Bemerkenswert ist die Art, wie die Bevölkerung vor Ort sie willkommen hieß, sagt Liska. Die Holzers etwa, ein Ehepaar in dessen Gasthaus nun ebenfalls gedreht wird, waren eigentlich in Pension gegangen und haben nun kurzerhand wieder aufgesperrt, um täglich für das wachsende Team zu kochen. Bei der Cousine der Holzers wohnen Liska und Copper nun. Ein Bauer hat einen alten Lieferwagen für die Unfallszene zur Verfügung gestellt. Andere bringen altes Gewand für die Kostüme.

Aufmarsch und Lesestunden

"Es kann sein, dass du zum Spielen kommst und dann ein Licht für die Kamera in die Hand gedrückt bekommst, oder du willst nur zusehen und spielst plötzlich mit", so Copper. "Es geht hier auch darum, als Künstler wohinzukommen und um Hilfe zu fragen", sagt Liska, "so kann man sich mit Menschen verbinden, das passiert im herkömmlichen Theaterraum nicht."

Der Text von Jelinek kommt auf keinen Fall zu kurz. Denn der gesamte Roman wird im Rahmenprogramm gelesen. In einem alten Eisenbahnwagon in Kapellen, einer Gemeinde, die 2014 mit Neuberg fusioniert wurde, kann jeder, der Lust hat, sich für eine Viertelstunde eintragen.

Oder einfach am kommenden Wochenende zum ersten Massendreh Crash erscheinen und einen Schaulustigen beim Unfall spielen. Am dritten Wochenende wird übrigens der große Aufmarsch der Zombies gedreht: Dass dies in der Nacht vor der Nationalratswahl passiert, wusste man bei der Programmierung noch nicht. (Colette M. Schmidt, Spezial, 29.9.2017)