Von Havanna über London nach St. Pölten ins Festspielhaus: Carlos Acostas international tourende freie Kompagnie schlägt eine Brücke vom klassischen Ballett hinüber in den zeitgenössischen Tanz.

Foto: Manuel Vason

Bis zum Vorjahr war er einer der ganz populären Ballerinos beim Londoner Royal Ballet. Jetzt, nachdem er sich aus Altersgründen vom aktiven Spitzentanz zurückgezogen hat, will der Kubaner Carlos Acosta (44) neu durchstarten: Mit frischer eigener Company und seiner erst im September neu eröffneten Acosta Danza Academy in Havanna. Das Londoner Tanzhaus Sadler's Wells gehört zu den Geburtshelfern von Acostas Truppe und zeigt – noch bis Samstag – deren fünfteiligen ersten Abend mit dem Titel Debut, der kommende Woche auch im Festspielhaus St. Pölten zu sehen sein wird.

Unter all den Ballettstars, die sich von der Bühne verabschiedet haben, nimmt Carlos Acosta einen besonderen Platz ein. Geboren in einem Vorort von Havanna, war der spätere Tanzstar das elfte Kind einer sehr armen Familie. Der Vater zwang ihn zu seinem Glück: Carlos musste die Nationale Ballettschule besuchen, schloss sie erfolgreich ab und begann eine mit Auszeichnungen und guten Engagements gepflasterte Karriere. 1998 stieß er zum Royal Ballet, fünf Jahre später war er dort "guest principal artist".

Außergewöhnlich an ihm ist, dass er vor vier Jahren einen Roman publizierte – Pig's Foot -, dass er auch als Schauspieler gearbeitet und seine Biografie veröffentlicht hat, die 2008 unter dem Titel Kein Weg zurück. Geschichte eines kubanischen Tänzers auch ins Deutsche übersetzt wurde.

Filmische Autobiografie

Ab Ende dieses Jahres wird Acosta an einem autobiografischen Film arbeiten, in dem auch seine Tänzer auftreten sollen. Auf die ist der nunmehrige Company-Leiter besonders stolz. Nach London und St. Pölten kommt Acosta Danza als 13-köpfige Gruppe, doch nicht alle Company-Mitglieder sind Teil der Debut-Tour. Von ihnen verlangt Acosta einiges: Sie müssen genauso gut klassisches Ballett wie modernen und zeitgenössischen Tanz beherrschen.

Die neue Company soll ihr Publikum durch ein breitgefächertes Repertoire überzeugen und bald eine respektierte Position auf dem Markt der international tourenden freien Balletttruppen erreichen. Im angloamerikanischen Raum funktioniert so etwas besonders gut. Das Publikum der Debut-Uraufführung im gut besuchten Sadler's Wells Theatre war begeistert von dem Programm – durchaus nicht immer zu Recht. Das Eröffnungsduett The Crossing over Niagara der Kubanerin Marianela Boán, entstanden in den 1980er-Jahren, kommt heute als pathetischer Männermuskelkitsch daher. Und aus Belles-Lettres, einem eher mittelprächtigen Gruppenstück im neoklassischen Ballettstil des US-Amerikaners Justin Beck – der 30-Jährige arbeitet als Gastchoreograf beim New York City Ballet -, konnten auch die talentierten kubanischen Tänzer kein Meisterwerk machen.

In einem eigens für Carlos Acosta geschaffenen Duett mit dem Titel Mermaid des mehr als vielgefragten Belgiers Sidi Larbi Cherkaoui tritt der Kubaner selbst auf. Zusammen mit der fabelhaften Tänzerin Marta Ortega legte er bei der Londoner Uraufführung dieser Arbeit, die noch einiger Weiterentwicklung bedarf, eine schöne Performance hin. Zu den bemerkenswerten Elementen des Abends gehören die beiden Gruppenstücke Imponderable von Goyo Montero und Twelve von Jorge Crecis. Hier zeigt Acostas charismatische Gruppe, dass Tänzerinnen und Tänzer wirklich hinter einer Arbeit stehen müssen, damit sich deren volles Potenzial fürs Publikum erschließen kann.

Sinn für Atmosphäre

Imponderable mit Texten und Liedern von Silvio Rodríguez ist ein Versuch, die Bewegungen eines kleinen Soziotops durch eine – unbestimmt – schwierige Umgebung darzustellen. Montero, gebürtiger Kubaner und derzeit Leiter des Balletts am Nürnberger Staatstheater, ist ein geschickter Choreograf mit Sinn für Atmosphäre und Spannung. Und in Twelve wird's aufregend, weil die Tänzer einander mit Werfen und Fangen von Wasserflaschen auf Trab halten. Das macht Spaß, weil's sportlich virtuos daherkommt.

Acosta Danza ist eine wirklich sympathische Truppe am Beginn ihrer Karriere. Ihr Debut-Programm hat mit zeitgenössischem Tanz, wie er in den Ländern auf dem europäischen Kontinent verstanden wird, nur wenig zu tun. Sogar Cherkaouis Choreografie, als Highlight gedacht, wirkt wie hastig auf Carlos Acostas Ballettleib geschneidert. Die Londoner Vorschusslorbeeren sollten den Company-Gründer nicht darüber hinwegtäuschen, dass es auch ein künstlerisches Wagnis braucht, um eine neue Tanzformation zu lancieren. Und nicht bloß das kubanische Flair und die Versorgung verschiedener Geschmacksrichtungen im Publikum. (Helmut Ploebst aus London, 29.9.2017)